ausgabe #76. prosa. su tiqqun
der umgeschulte
Sebastian spielt akustische Gitarre. Zuhause am Küchentisch. Auf Gauklerfesten. Für hochbetagte Menschen, die ihren Lebensabend in Pflegeheimen verbringen. Als Altenbetreuer mit virtuosen Vorzügen im Niedriglohnsektor.
Wenn man für jemanden spielt, der gleich sterben wird, für jemanden, bei dem klar ist, dass er in ein paar Minuten seine Augen schließt, für den ist so ein Gitarrensolo das schönste letzte Geleit, da geht nichts drüber. Mit einer Gitarre im Spind bist du sofort im Patientenzimmer, mit dem Flügel nicht. Das ist eine völlig andere Bühnenerfahrung, für Sterbende zu spielen. Früher waren’s die Lebenden, jetzt die Dementen. Na und?
Früher hat Sebastian das theater 89 begleitet – als Musiker, Darsteller, Regieassistent. Er gehörte zum Ensemble des Theatermachers Joachim Frank, der als Schauspieler mit einer Gruppe von Kollegen 1989 aus dem Berliner Ensemble auszog und ein freies Theater versuchte, bevor das erste professionelle Off-Theater der DDR vom liberalen Dogma des Westens überfallen wurde.
Wir haben, von oben nach unten betrachtet, im Parterre der Gesellschaft gespielt und für und mit den Leuten aus dem Souterrain gearbeitet. Wir wollten denen eine Stimme geben. Dem Prekariat, den Arbeitslosen, Jugendlichen, Unbeachteten, Chancenlosen. Wir sind runter von den Brettern, die was bedeuten sollen, in die Pampa, ins Theaternotstandsgebiet Brandenburg, als uns die Förderung gestrichen wurde.
2013 wurde dem theater 89 nach 20 Jahren legendärer Geschichte das Geld gestrichen. Weil die Ästhetik zu DDR-lastig, zu obsolet und überkommen sei, monierte die Jury. Die Konzeption, Stücke vergessener oder ins Abseits gedrängter Autoren aufzuführen, wäre nicht mehr zeitgemäß.
Wir haben uns als Brecht-Erben verstanden, Theaterpreise abgeräumt, ein paar der besten DDR-Schauspieler gehörten zum Kern der Truppe, aber Geld sollten wir keins mehr bekommen mit unseren unzeitgemäßen Meriten. Dabei ist dieses Unzeitliche ja genau das, was das Theater ausmacht – sein Widerstand gegen die Zeit.
Vermutlich haben wir einfach zu sauber gespielt, unser Handwerk war aus der Mode. 89 hat uns die Freiheit überrannt und 25 Jahre später das Performative.
Sebastian verlor seinen Job, rutschte ins Heer der Hartz IV-Empfänger und ließ sich umschulen. Als Altenbetreuer verdient er halb soviel wie ein Pfleger, arbeitet sechs Tage die Woche und hat keine Zeit mehr, ins Theater zu gehen.
Ich mußte aus dem Labyrinth der Geldnot raus, ich wollte lieber mitmachen, das Leben schön finden und mich arrangieren mit der Falschheit um einen herum.
Obwohl ihn die Maloche zerfrißt bis zum Überdruss, der in seiner Umkehrung eine Leere erzeugt, in der man sich so dünnwandig fühlt wie ein aufgeblasener Luftballon.
Su Tiqqun