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ausgabe #79. editorial. evelyn schalk

editorial

funkensprung


Der Schock ist nicht mit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses oder dem Tag der Angelobung vorüber gegangen. Er dauert an und die Grundlage dafür wird täglich aufs Neue verlässlich geliefert. Seit ihrem ersten Tag im Amt sorgt diese Regierung dafür – mit ihren Angriffen auf Frauen, MigrantInnen, Geflüchtete, ArbeitnehmerInnen, Arme, AlleinverdienerInnen, Arbeitslose, Kranke, JournalistInnen, Kunst- und Kulturschaffende, Muslime, Juden und Jüdinnen, SchülerInnen, Studierende, Familien mit niedrigen Einkommen, NotstandshilfebezieherInnen, Menschen über 50, KonsumentInnen...


Kürzlich war zu hören, dass jede/r zweite ÖVP-WählerIn auf Verbesserungen für das eigene Leben durch Schwarzblau hofft. Das sind 797.763 Personen. Eine utopische Hoffnung, die sich für einen Großteil von ihnen nicht erfüllen wird, denn wie bereits die erste Woche dieser Regierung gezeigt hat, betreffen schon die bis dato in Gang gesetzten „Maßnahmen“ – nahezu alle. Darunter eine große Zahl von Menschen, die besonders darunter leiden werden. Die, die tatsächlich profitieren sind jene, von denen sich Schwarzblau in trauter Einigkeit das Regierungsprogramm diktieren ließ: die Reichsten des Landes, Industrielle, Immobilienkonzerne, die wohlhabendsten Familien Österreichs. Das sind nicht einmal 2 Prozent der Bevölkerung. Sie hoffen zurecht auf Verbesserungen. Ein paar weitere, die auf diesem Weg unentbehrlich oder zumindest nützlich sind, bekommen noch ein paar Brosamen ab, das war‘s. Alle anderen werden, ob ihnen das nun bewusst ist oder nicht, mit zum Teil massiven Verschlechterungen zu kämpfen haben. Die, die schon bisher zu den Benachteiligten zählten, wird es am heftigsten treffen.

Die nächste Ebene geht noch tiefer. Sie beinhaltet nicht nur die tagespolitischen Entscheidungen, sondern die geplanten und zum Teil bereits begonnenen Eingriffe in die gesetzlichen und politischen Grundstrukturen des Staates, also die drohende Demontage und/oder Aushöhlung demokratischer Grundrechte. Diese sicherten bisher ein mehr oder weniger friedliches, rechtsstaatliches, sowie sozial und wirtschaftlich verlässliches Zusammenleben. Mit der Schwächung dieser Strukturen hat nicht erst Schwarzblau begonnen. Aber diese Regierung erhebt sie zum Programm. Wer das Recht auf Asyl de facto abschafft, wer den 12-Stunden-Arbeitstag wieder einführen will und damit ins vorvorige Jahrhundert zurückfällt, wer Frauenrechte demontiert, Überwachung massiv ausbauen will, wem Pressefreiheit suspekt ist und wer sozialstaatliche Leistungen am liebsten auf Null setzen würde, der baut an einem System, das einen klaren Wechsel von Demokratie zu einer totalitären Staatsform markiert.

Damit sind wir bei jenem Punkt angekommen, der wohl am häufigsten diskutiert, der gleichzeitig am vehementesten dementiert wurde (zumindest von einigen Seiten) und der die größten Ängste, die heftigste Wut und wohl auch den stärksten Widerstand auslöst. Diese Regierung ist nicht nur konservativ, das ist sie (in Spuren) auch. Sie ist nicht nur neoliberal. Das ist sie durch und durch. Sie ist nicht „nur“ rechtspopulistisch. All das waren schon andere vor ihr, was die Sache nicht harmloser macht. Mehr als ein Viertel der Minister, die dieser Regierung angehören, die Dritte Nationalratspräsidentin sowie ein noch weit größerer Anteil an FunktionärInnen, ist, zum Teil offen, rechtsextrem, sowohl in ihren Äußerungen, als auch den Organisationen, denen sie angehören. So etwas ist in jedem Land untragbar, in Österreich mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, die bis in die Gegenwart weiterwirkt, aber eine veritable Katastrophe.

Dafür gibt es keine Legitimation. Nicht die geringste. Nicht gestern, nicht heute und in keiner noch so nahen oder fernen Zukunft.

Aber: Diese Überzeugung, die ein Bewusstsein ist, teilen hunderttausende Menschen in Österreich und in ganz Europa. Eine Regierung ist das Ergebnis von Verhandlungen, keine Partei muss mit rechtsextremen VertreterInnen ein Bündnis eingehen, tut sie es doch, dann aus eigener Entscheidung, nicht der der WählerInnen. Darüber hinaus haben 3.489.025 Menschen bei der letzten Nationalratswahl weder ÖVP noch FPÖ gewählt (1). Ihren vehementen Protest und Widerstand haben darüber hinaus seither Zehntausende öffentlich kund getan. Am und um den Tag der Angelobung gingen nicht nur in Wien, sondern auch in den Landeshauptstädten tausende BürgerInnen gegen rechte, rassistische, antisoziale Regierende auf die Straße. Am 13. Jänner versammelten sich zum „Neujahrsempfang“ gegen Schwarzblau über 70.000 (2) Menschen für dieses Bewusstsein und in offenem Widerstand gegen rechtsextreme, menschenverachtende Politik und ihre ProtagonistInnen. Die Menge füllte die Maraiahilferstraße vom Westbahnhof bis zum Heldenplatz, mit Teilnehmenden vom Baby bis zu PensionistInnen, mit ArbeiterInnen, Studierenden, Angehörigen quer durch alle Berufsgruppen und aus nahezu allen Bereichen der Gesellschaft. Der Held*innenplatz wurde zum Lichtermeer, wo die Kundgebung zu den Klängen von „Bella Ciao“ zu Ende ging und gleichzeitig den Auftakt setzte: für anhaltenden Widerstand gegen Totalitarismus und Faschismus, für eine Politik und Gesellschaft jenseits des Hasses, der Ausbeutung und Unterdrückung der Schwächsten und der Unbequemsten. Für ein offenes, solidarisches und reflektiertes Miteinander.

Es beginnt. In diesem Moment. Und es hat längst angefangen. Bündnisse werden geknüpft, Solidarität gelebt, Offenheit und Kreativität weiterentwickelt, alte Muster verworfen und neue Perspektiven ausgelotet, Erfahrungen eingesetzt und über den Tellerrand der eigenen Wohlfühlzone nicht nur geschaut, sondern gesprungen, Mut entwickelt, Netze geflochten, Hände gereicht, Arme untergehakt, Straßen erobert, Räume verteidigt, Vertrauen geschaffen – auf die Kraft, die es braucht, die eigene und die gemeinsame, zu tun, was der Mauthausen-Überlebende Aba Lewit kurz nach Weihnachten in der Zeit im Bild auf die Frage nach seiner Botschaft an alle, die diese Zeit nicht erlebt haben, antwortete: „Sie sollen bedenken, dass sie Menschen sind. Das ist das Einzige. Sie sollen menschlich sein.“


Evelyn Schalk


(1) Zusätzliche 1,1 Millionen Menschen, die in Österreich leben, sind zudem nicht wahlberechtigt, konnten also gar nicht ihre Stimme abgeben.
(2) Die Polizei gab zunächst eine Zahl von 20.000 an, verdoppelte diese später, einzelne OrganisatorInnen sprechen von 80.000 Demonstrierenden, die Plattform für eine menschliche Asylpolitik legt ihre Berechnung detailliert offen und kommt auf 70.000 TeilnehmerInnen. https://www.facebook.com/events/146576846065127/permalink/155108508545294


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