ausgabe #79. kolumne. peter birke
inseln, die aus dem meer auftauchen
Rundreise durch eine Hamburger Klassengesellschaft
Besser, du nimmst nicht den Aufzug. Letzte Woche ist ein Kollege aus dem fünften Stock abgestürzt. Dass er es überlebt hat, ist ein Wunder. Aber was sollen die vielen Leute machen, die Kinder haben? Den Kinderwagen und den Einkauf in den 13. Stock schleppen? Für uns ist das nicht so schlimm. Die Kinder sind ja schon aus dem Haus, wir sind zwar schon alt, aber auch nicht so alt, dass wir keine Treppen mehr steigen könnten. Aber bei uns, ganz oben, siehst du, da läuft das Wasser durch die Decke. Wir streichen immer wieder über den Schimmel, aber es hilft nicht viel. Der Vermieter sagt, wir sollen besser heizen, aber wenn du dir das Dach von oben ansiehst, dann kannst du schon von weitem richtig sehen, wie da die Feuchtigkeit durchkommt. Das Badezimmer ist voller Silberfische, einfach nicht wegzukriegen, auch wenn du jeden Tag putzt. Und die Heizung wird in den oberen Stockwerken sowieso nur lauwarm, weil sie zu schwach ist, das Wasser durch die Rohre bis ganz nach oben zu pumpen. Und dass die Klingel immer kaputt ist, das finden wir auch sehr lästig. Wenn man den Hausmeister anruft, hängt man eine Ewigkeit in der Telefonschleife und irgendwann ist dann plötzlich besetzt. Trotzdem wohnen wir eigentlich ganz gerne hier, unsere Kinder sind in dieser Wohnung aufgewachsen, und die Aussicht von hier oben ist einfach toll.“
Dieses Statement habe ich im Rahmen einer Befragung gehört, die die Arbeitsgruppe Wohnen im Wilhelmsburger Korallus- und Bahnhofsviertel im Sommer 2012 durchgeführt hat. Die Umfrage fand etwa ein Jahr nach einer Protestaktion der Mieterinnen und Mieter dieser beiden Quartiere statt, bei der die örtliche Zentrale des Vermieters GAGFAH (Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten) belagert wurde. Diese private Gesellschaft, die größte börsennotierte in Deutschland tätige Immobilienfirma, hat den größten Teil des ehemals genossenschaftlichen Wohnungsbestandes der beiden Quartiere vor einigen Jahren gekauft. Sie ist auch bundesweit dafür berüchtigt, dass sie ihre Häuser verfallen lässt, während sie zugleich ständig höhere Mieten und Nebenkosten verlangt. Obwohl der Wilhelmsburger MieterInnenprotest für eine kurze Zeit in Funk und Fernsehen präsent war, hatte sich an der Situation der MieterInnen nichts verbessert. Nach etlichen Eingaben, Mietminderungsverfahren, Infoständen und zwei Demonstrationen wurde die Befragung durchgeführt, um die lokale Situation und den Widerstand der BewohnerInnen sichtbar zu machen.
Hochglanz und Schimmel
In der TouristInneninformation auf dem Hamburger Hauptbahnhof werden noch heute Stadtpläne verteilt, auf denen Hamburg an der Norderelbe endet. Jenseits der Norderelbe liegt der Hafen. Südlich und östlich davon liegen die Stadtteile Veddel und Wilhelmsburg. Vor etwa 15 Jahren war es noch so, dass über diese Stadtteile in der Hamburger Presse so gut wie nichts berichtet wurde oder wenn, dann waren es schockierende Geschichten. Geschichten über gewalttätige Gangs, bissige Hunde und allerlei Gefahren, die angeblich lauern, wenn man sich in dieses Gebiet verirrt. Die Menschen, die im flachen Marschland zwischen Norder- und Süderelbe wohnen, blieben bis Anfang der 2000er Jahre als eigenständig Handelnde, mit ihren Wünschen und Bedürfnissen, ganz unsichtbar. Was sporadisch gezeigt wurde, waren Klischees, Masken, Verkleidungen. Das Gebiet auf der anderen Seite des Hamburger Hafens war zum Fürchten gedacht. Tatsächlich hat erst die neoliberale Stadtpolitik mit diesem Verdikt aufgeräumt. Sie hat die Elbinseln im Zuge der Wiederbelebung der Waterfronts (1) als Attraktion entdeckt, die Hamburg im globalen Konkurrenzkampf der Städte stärken könnte. Regierungen in allen Farben haben dann in den 2000er Jahren ein Konzept namens „Sprung über die Elbe“ entwickelt und seitdem einhellig propagiert.
Dieses Konzept, das durch ein springendes, blau-weiß gestreiftes Männchen illustriert wird, das seitdem überall als Logo verbreitet worden ist, zeichnet die Entwicklung der HafenCity auf dem Gebiet des ältesten, aber nunmehr für die Logistikwirtschaft unattraktiv geworden, Industriehafens als Ausgangspunkt, von dem sich die Hamburger City über die Süderelbe auf die Elbinseln und bis nach Harburg ausdehnen soll. Zentraler Bestandteil war die Gründung zweier Subunternehmen – der Internationalen Bauausstellung (IBA) und der internationalen gartenschau (igs). Insbesondere bei der IBA ging es um wesentlich mehr als um ausgereifte architektonische Entwürfe oder das Bauen mit originellen Materialien, und es ging nicht zuletzt um einen Eingriff in die BewohnerInnen- und Sozialstruktur der Elbinseln. Nach den diesbezüglichen Erfahrungen mit der HafenCity bereits mit einer gewissen Routine versehen, wurde ein systematisches Standortmarketing betrieben, das Investoren anlocken soll, die Flächen des größten Hamburger Stadtteils in Wert zu setzen. Für die Gartenschau wurde ein riesiger, vormals öffentlich zugänglicher Park eingezäunt, umgepflügt und für die Zeit des Events gegen einen atemberaubend hohen Eintritt im April 2013 wieder geöffnet. (2)
In der Welt des Standortmarketings geht es um Hochglanz, nicht um Schimmel. Die Botschaft ist vielmehr One fine day this all will be yours, (3) Ein Versprechen, das an die Stadtmenschen der Zukunft gerichtet ist.
Es ist eine Mischung aus Utopie und Spekulation, die nicht besonders originell ist. Sie liegt auf der Linie der in Nordeuropa schon seit mehreren Jahrzehnten dominanten Stadtpolitik. Dass es eben dieses Bild vom „neuen Menschen“ gibt, ist jedoch für die Dynamisierung der lokalen sozialen Verhältnisse kaum zu unterschätzen. Und diese sind wiederum eine der Voraussetzungen – neben der Wohnungsnot und den steigenden Preisen am Immobilienmarkt – für die Inwertsetzung von Flächen. Damit wird zugleich eine individualisierende Position propagiert, die die StadtbewohnerInnen zu Teilnehmern an einem Konkurrenzkampf erklärt, in der alle angeblich eine faire Chance bekommen sollen, das ersehnte Zukunftsland zu betreten. Zugleich wird ein neues Verhältnis zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit hergestellt, das die lokalen Klassenverhältnisse stabilisiert. Die historische Figur der Armut, die für die Elbinseln so prägend ist, wird ausgelöscht oder als Folklore entsorgt.
Die Wahrnehmung von Wilhelmsburg als eine Art Hamburger Variante von Gotham City wurde durch das Bild des „lebendigen, multikulturellen Stadtteils“ ersetzt. Während die Lebensqualität betont wurde, die durch den Zuzug von Studierenden und Mittelschichten auf die Inseln entstehe, verschwanden die Bilder von Armut und sozialer Polarisierung. Um einige der ärmeren Quartiere der Elbinseln, insbesondere den Trabantenstädten aus den 1960er und 1970er Jahren, hat die IBA einen großen Bogen gemacht. Oder vielmehr einen kleinen Bogen, denn einige dieser Orte liegen nur einen Steinwurf vom Ausstellungsgelände der IBA entfernt. Dabei kann man nicht sagen, dass sich dort seit Beginn des Projektzeitraums der IBA vor sechs Jahren nichts verändert hat: Die Mieten sind wie überall in Hamburg explodiert, die Einkommen sind gesunken und die Lebenssituation der meisten dort lebenden Menschen hat sich teilweise massiv verschlechtert. Allerdings liegen die Trabanten nach wie vor in einem diskursiven schwarzen Loch, sie finden sich auch nicht in den Hochglanzbroschüren der Stadtvermarktung, und wenn sie einmal beschrieben werden, dann als Raum für den Rest, in denen sich „der Müll in den Hinterhöfen stapelt“. (4)
Auch die Geschichte des Kampfes gegen die Armut und der Selbstorganisationen der BewohnerInnen, die für diejenigen Viertel der Elbinseln, in denen HafenarbeiterInnen und MigrantInnen lebten und die lange Zeit Hochburgen sozialer Kämpfe, der sozialistischen Bewegungen oder des Genossenschaftswesens waren, wird auf diese Weise entsorgt. Die neoliberale Stadt hat keine Geschichte, aber sie behauptet, eine leuchtende Zukunft zu repräsentieren. Die Trabantenstadt ist Geschichte, die Stadt der transparenten Fassaden ist die Zukunft. Aber diese Setzung, die der Erneuerung und Weiterentwicklung der sozialen Herrschaft dient, ist nicht frei von Risiken. Denn zwischen Vergangenheit und Zukunft tauchen unvermittelt Bruchstellen auf, die zumindest sporadisch ein Eingreifen „von unten“, von MieterInneninitiativen, GentrifizierungskritikerInnen, Gewerkschaften, migrantischen Gruppen u.a. erneut möglich machen.
Aber wo wird das sichtbar, wenn man nach Wilhelmsburg reist? Es ist einfacher als man denkt. Denn im Grunde genügt es, mit der S-Bahn vom Hamburger Hauptbahnhof zur S-Bahnstation Veddel zu fahren, von dort eine Reise mit der Buslinie 13 zu unternehmen und aufmerksam aus dem Fenster zu schauen...
Peter Birke
Zur Busfahrt bitte hier weiter (Volltext)...(1) Kritisch zu dieser Ideologie verhält sich die Debatte über „new build gentrification“, siehe etwa: Mark Davidson / Loretta Lees, New-build ‚gentrification‛ and London’s riverside renaissance, in: Environment and Planning A, Nr. 37/7, 2005,
S. 1165–1190.
(2) Mittlerweile ist die Ausstellung beendet, der Zaun aber geblieben. Das Gelände soll in der Nacht geschlossen bleiben, vorgeblich wegen einer „Gefahr von Vandalismus“, offensichtlich geht es aber darum, zumindest einen Teil des Parks künftig weiterhin als (eintrittspflichtige) Eventfläche zu nutzen. Zu den Entwicklungen in Wilhelmsburg nach dem Ende der Ausstellung(en) siehe auch die vorläufige Bilanz in: Peter Birke, Radikaler Umbau. Die Internationale Bauausstellung in Hamburg-Wilhelmsburg als Labor der neoliberalen Stadtentwicklung, in: Emanzipation 6, 2013, S. 98-109.
(3) Dellbrügge und de Moll haben diesen Prozess anhand der Osloer Waterfront-Projekte unter der Verwendung von Wildwest-Motiven beschrieben, siehe
www.workworkwork.de/guerre/oneday.htm .
(4) Diese Bemerkung war die einzige, die dem Wilhelmsburger Wochenblatt in seinem Jahresrückblick 2012 zum Thema Korallusviertel einfiel, ebd., 3.1.2013, Seite 3.