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You are here: Home Ausgaben 84 | Okt/Nov/Dez 18 auf einem gehweg (außer dienstags)

ausgabe #84. prosa. kerstin meixner

auf einem gehweg (außer dienstags)

 

Vor der Baustelle eine Absperrung, Irritation und Selbsthass. Er blickt von seiner Arbeit (und zu ihr) auf. Hier können Sie nicht durch. Hier sind diese Woche Kanalarbeiten. Sie antwortet nicht. Er zieht seine Warnweste zurecht und klettert aus der Grube. Sie müssen rüber auf die andere Seite. Am besten da hinten, da an der Ampel oder – es ist ja eigentlich nicht viel Verkehr – vielleicht gehen Sie einfach hier – spart Strecke. Sie antwortet nicht. Die Situation wird ihm unheimlich (die Frau ist es auf jeden Fall). Er stellt seine Schaufel zur Seite und tritt an die Absperrung. Sprechen Sie Deutsch? Ja, antwortet sie (mechanisch). Er lächelt. Hier können Sie heute nicht durch. Hier sind Kanalarbeiten. Das sehe ich, sagt sie (immer noch mechanisch), aber ich gehe immer auf dieser Seite. Ich verstehe (milder jetzt). Aber diese Woche geht das nicht. Kanalarbeiten. Wir machen auch schnell. Auf der anderen Seite der Bande eine Pause. Ich brauche noch einen Moment (so mechanisch). Er nickt und kehrt in seine Grube zurück.

Vor der Baustelle eine Absperrung, schwindende Irritation und wachsender Selbsthass. Ihr Zustand ist nicht unveränderlich. Sie sollte es besser hinbekommen. Sie sollte – mittlerweile – jetzt – bald – – gleich. Aber sie braucht noch einen Moment.

Sie kennt Menschen, für die diese Situation schlimmer wäre. Bei denen kein Selbsthass die Irritation verdrängen würde. Zumindest keiner, den sie artikulieren könnten. Mittlerweile – jetzt – bald – – gleich. Dass man überhaupt Menschen aus Therapiegruppen kennt.

Na, wenigstens regnet es heute nicht, sagt er von unten. Regen ist vertane Zeit. Man kann nicht weiterarbeiten, wenn es regnet. Und (vor seine Brusttasche klopfend) Rauchen kann man auch nicht. Er schlägt die Schaufel gegen ein freigelegtes Rohr (metallisches Hallen). Brandgefahr. Und im Auto lässt mich mein Kollege nicht. Ich habe noch nie eine Zigarette geraucht, sagt sie (unaufgefordert). Vorbildlich, aber Kino? Sie stutzt. Kino? Er lächelt. Ja, Kino. Ins Kino gehen Sie? Sie schüttelt den Kopf (so mechanisch). Zu viele Menschen. Er nickt. Und dass die immer so laut Popcorn essen, auch wenn es gerade nicht passt (ein bisschen Smalltalk für die Wartezeit). Oder noch schlimmer, diese Chips mit Dip. Wie heißen die noch mal? Nachos (zu mechanisch). Ja genau, Nachos, danke. Die stören mich noch mehr. Sofortiger Widerspruch. Nachos mag ich. Die kann man auch zu Hause essen. Zu Hause ist gut, sagt er. Da stört es ja auch niemanden. Außer meine Katze. Er will lachen, aber er weiß nicht, ob sie überhaupt einen Witz gemacht hat (mechanisch kann viele Dinge bedeuten).

Sie braucht fünf Minuten, um sich zu überwinden, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Die Autos auf der Fahrbahn haben böse Augen. Sie ist nicht verrückt, sie weiß, dass das eigentlich nur die Form der Scheinwerfer ist. Sie weiß allerdings auch, dass höchstwahrscheinlich nichts zwischen die Seiten der Werbebroschüren gerutscht ist, die mit der Post kommen, und muss sie trotzdem Blatt für Blatt kontrollieren, bevor sie sie wegwirft. Und im Anschluss zerreißen. Was sie nicht weiß: Warum sie Scharniere so sehr mag. Aber ihr Nachbar zum Beispiel liebt Gartenzwerge und kennt auch keinen Grund dafür. Sie ist nicht verrückt, jedenfalls nicht zur Gänze.

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 Foto: Tim Collins on Unsplash

Da sind Sie ja, begrüßt er sie zwei Tage später. Sie steht vor der Absperrung. Zehn Jahre Gewohnheit legt sie nicht in achtundvierzig Stunden ab. Es regnet nicht, stellt sie fest (trocken). Er lacht. Es ist ihm heute egal, ob das überhaupt ein Witz sein sollte. Ich hatte Ihnen gestern Nachos mitgebracht, sagt er. Aber als ich dann angefangen habe zu arbeiten, ist mir irgendwann eingefallen, dass das eigentlich doof ist. So ohne Dip. Und dann sind Sie gestern ja auch nicht gekommen. Ich esse sie auch so, antwortet sie (schnell). Heute habe ich sie leider nicht dabei, weil – nun ja – wie gesagt, ich dachte, dass es vermutlich doch doof ist. Und ich wusste nicht, ob sie heute wiederkommen würden, denn gestern, gestern waren sie nicht da. Dienstags gehe ich hier nicht lang, dienstags habe ich Therapie. Er stellt sich sehr aufrecht hin. Therapie habe ich auch. Aber freitags. Wegen des Rückens. Die Arbeit geht aufs Kreuz. Sie nickt. Ich habe Kontrollzwänge. Deswegen bin ich dienstags nicht hier. Aber morgen? Ich komme mit dem Bus um vierzehn Uhr. Er lächelt. Dann bringe ich Ihnen die Chips morgen mit. Manchmal hat der Bus Verspätung. Das macht nichts, ich kann ja nicht weg. Er klopft sich vor die Brusttasche. Auch nicht, wenn es regnet. Sie lacht nicht, obwohl es ein Witz war.

Was glaubst du, was das soll?, fragt am Abend ihre Nachbarin. Ich meine, was will der Typ von dir? Er will nur freundlich sein. Unterstützend. Sie ist unbeholfen im Kontakt mit anderen Menschen, aber sie ist nicht unfähig, ihre Intentionen zu erkennen. Na, ich weiß nicht, meint die Nachbarin. Für mich klingt das sehr dubios. Warum will er denn mit dir Nachos essen? Was soll denn das? Und wie sieht er eigentlich aus? Wie man halt aussieht, wenn man auf einer Baustelle arbeitet. Was soll das heißen? Er hat eben so Schutzkleidung an. Ich meinte doch nicht die Kleidung. Na, sei auf jeden Fall mal lieber vorsichtig. So Frauen wie du, da denken Männer schnell, sie können dich ausnutzen. Da kommt noch was, das sag ich dir. Ich muss jetzt nach Hause, entschuldigt sie sich und lässt ihre Nachbarin sitzen. Sie mag Gespräche nicht, in denen es Frauen wie sie gibt.

Der Bus am nächsten Tag ist pünktlich. Er wartet schon an der Absperrung. Ich hoffe, Sie mögen diese Sorte? Es ist die einzige Sorte meines Supermarkts (etwas hölzern). Also, das nenne ich einen Glückstreffer. Er lächelt, sie lächelt zurück. Ich heiße übrigens Andrej. Sie nickt. Sie weiß nicht, ob sie ihren Namen sagen soll, das macht sie auf der Straße nicht. Sandra, sagt sie dann doch. Sie unterdrückt es, ihren Nachnamen gleich nachzuschieben, wie sie das im Büro am Telefon immer tut. Ich habe eine Überraschung für Sie, Sandra, sagt er und lächelt erneut. Ich mag keine Überraschungen, entfährt es ihr. Dann sammelt sie sich. Höflichkeit, sagt eine Stimme in ihrem Kopf. Entschuldigen Sie, Andrej. Kein Grund, sich zu entschuldigen, ich mag auch keine Überraschungen, aber die hier ist gut. Versprochen. Er reicht ihr die Chipstüte und tritt an den Rand der Baustelle. Sehen Sie? Ein Brett für Sie. Dann müssen Sie nicht auf die andere Seite. Er legt das Brett über die Grube. Darf man das denn (ganz unmechanisch)? Er streckt die Arme zur Seite und blickt sich um. Wer soll es uns verbieten? Einige Autos fahren vorbei, aber sie achtet nicht auf ihre Scheinwerfer. Er tritt zurück an die Absperrung. Müssen Sie los? Meine Arbeit beginnt um halb drei. Sie will ihm die Chipstüte zurückgeben, aber er wehrt sie ab. Behalten Sie sie nur, mir schmecken sie nicht so sehr. Er schiebt die rotweiß-gestreifte Bande zur Seite. Trauen Sie sich allein hinüber? Natürlich. Es ist ja ihre Seite der Straße.

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 Foto: Pete Novicki on Unsplash

Abends sieht sie zu Hause einen Film und isst die restlichen Nachos. Stört es dich?, fragt sie ihre Katze und lacht zum ersten Mal über diesen Gedanken.

Am Freitag keine Baustelle mehr. Vor der verschwundenen Absperrung Irritation und – Traurigkeit? Man kann sehen, wo die Grube war. Das Straßenpflaster sieht hier noch hell aus. Eine saubere Trennlinie quer über den Bürgersteig. Sie steht davor und fragt sich, wie lange es dauert, ein Loch dieser Größe zu schließen. Die ersten Regentropfen fallen. Bald sieht das nasse Straßenpflaster überall gleich dunkel aus. Als habe es auf ihrem Gehweg nie Kanalarbeiten gegeben, denkt sie und ist einen Moment lang beruhigt. Dann blickt sie in die Wolken. Regen ist vertane Zeit, sagt sie. Man kann nicht weiterarbeiten, wenn es regnet.

 

Kerstin Meixner

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