ausgabe #84. lyrik. raoul eisele
grenzmauern
I.
deine aufgerissene Haut am Draht
überlappt sich nun
sie ist stellenweise rotgetupft
und blau auf weiß gerippte
Adern stechen
sich in die silbernen Stacheln.
du schürfst aus deinem Rachen
Wortfetzen
zerstückelte Gesprächssilben
die du versilbert im Album deiner Urlaubstage
wohlbehütet aufbewahrt hattest
hier warst du immer auf Besuch
doch heute will dich niemand kennen
und der Schorf überwächst die Grenzgebiete
an denen SPRACHE großgeschrieben war
doch drei Sprachen sind zu groß für einen Mund
sind zu groß um sie zu kauen
zu spucken zu verdauen
und jede Gestik wird dir ausgelegt
bloß auf kurze Dauer
bis du sie wieder zurückzugeben hast
ein Gnadenaufenthalt
mehr nicht
und du wickelst sie in Leinen
horchst nach dem ersten Atemzug
wenn das sauerstoffreiche Blut
durch die rechte Herzkammer
in die Lungenflügel pumpt
und sich der Blutfluss umkehrt
es lebt
und du erlernst es
wächst erneut auf
gestikulierst sprichst lauscht
dem Klang der Wortarchitektur
ihrem Fluss
der wurzelnährenden Etymologie
wühlst in der Semantik
im Zungenbrecherspiel.
doch als man dir die Sprache lieh
verlieh man dir nur Zeit
die man nun zurückverlangte
die es zu verschütten galt
unter einem Berg aus Papier
aus Gesetzestexten
und man puckt dich darin ein
spuckt dich aus-
gekaut
und ausgerissen
aus dem Gästebuch der zeitbegrenzten
Grenzgänger.
II.
abertausende flüchtige Wörter
in Käfige gesperrt
protokolliert in den Sanddünen
in den Strohballen
eingeritzte Namensbezeichnungen
die sich in den Wüstenlandstrichen
bei Schirokko
festkrallen
sich eingraben in die Tiefen des Grundes
um dem Verweht werden zu entgehen
dem sich Anschließen
Anpassen Abschließen können
die dunklen Spitzen splissen
schnitten sich ab
verkürzten ihre DNS
und doch war ein Untertauchen unmöglich
ihre Syntax
ihre Fremdheit
ließ sie aufgedeckt
[aquí estoy - escúchame]
aber niemand hörte hin
niemand gab den Wörtern ihren Sinn zurück
sie waren sinnlos geworden
in der Lethargie des Revolvierens
sie waren abgestellt
stumm gedreht
und unbrauchbar in ihren Käfigen geworden
dort wo sich die Atmung zu erwecken wusste
dort war man nicht gewesen
es verstarb
es lag brach in seiner Lernresistenz
verblich
und löste sich im Sand
im ausgedörrten
der die Wunden überdeckte
sich in alle Richtungen streckte
und auch die letzten Neologismen
zerriss
ihre Glieder lagen
in alle Himmelsrichtungen verstreut
hätte man sie zurückverlangt
sie wären unauffindbar gewesen
nun da auch die letzten Wörter
ihrer Auslieferung zugeführt wurden
ab aufs Schafott
legte man sein Haupt-
Wortwörtlich auf den Stein
schliff die Klinge
und spaltete den Kopf entzwei
sodass neue Grenzen entstanden.
Raoul Eisele