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You are here: Home Ausgaben 84 | Okt/Nov/Dez 18 grenzmauern

ausgabe #84. lyrik. raoul eisele

grenzmauern

 

I.

deine aufgerissene Haut am Draht

überlappt sich nun

sie ist stellenweise rotgetupft

und blau auf weiß gerippte

Adern stechen

sich in die silbernen Stacheln.

du schürfst aus deinem Rachen

Wortfetzen

zerstückelte Gesprächssilben

die du versilbert im Album deiner Urlaubstage

wohlbehütet aufbewahrt hattest

hier warst du immer auf Besuch

doch heute will dich niemand kennen

und der Schorf überwächst die Grenzgebiete

an denen SPRACHE großgeschrieben war

doch drei Sprachen sind zu groß für einen Mund

sind zu groß um sie zu kauen

zu spucken zu verdauen

und jede Gestik wird dir ausgelegt

bloß auf kurze Dauer

bis du sie wieder zurückzugeben hast

ein Gnadenaufenthalt

mehr nicht

und du wickelst sie in Leinen

horchst nach dem ersten Atemzug

wenn das sauerstoffreiche Blut

durch die rechte Herzkammer

in die Lungenflügel pumpt

und sich der Blutfluss umkehrt

es lebt

und du erlernst es

wächst erneut auf

gestikulierst sprichst lauscht

dem Klang der Wortarchitektur

ihrem Fluss

der wurzelnährenden Etymologie

wühlst in der Semantik

im Zungenbrecherspiel.

doch als man dir die Sprache lieh

verlieh man dir nur Zeit

die man nun zurückverlangte

die es zu verschütten galt

unter einem Berg aus Papier

aus Gesetzestexten

und man puckt dich darin ein

spuckt dich aus-

gekaut

und ausgerissen

aus dem Gästebuch der zeitbegrenzten

Grenzgänger.

 

II.

abertausende flüchtige Wörter

in Käfige gesperrt

protokolliert in den Sanddünen

in den Strohballen

 

eingeritzte Namensbezeichnungen

die sich in den Wüstenlandstrichen

bei Schirokko

festkrallen

sich eingraben in die Tiefen des Grundes

um dem Verweht werden zu entgehen

dem sich Anschließen

Anpassen Abschließen können

die dunklen Spitzen splissen

schnitten sich ab

verkürzten ihre DNS

und doch war ein Untertauchen unmöglich

ihre Syntax

ihre Fremdheit

ließ sie aufgedeckt

[aquí estoy - escúchame]

aber niemand hörte hin

niemand gab den Wörtern ihren Sinn zurück

sie waren sinnlos geworden

in der Lethargie des Revolvierens

sie waren abgestellt

stumm gedreht

und unbrauchbar in ihren Käfigen geworden

dort wo sich die Atmung zu erwecken wusste

dort war man nicht gewesen

es verstarb

es lag brach in seiner Lernresistenz

verblich

und löste sich im Sand

im ausgedörrten

der die Wunden überdeckte

sich in alle Richtungen streckte

und auch die letzten Neologismen

zerriss

ihre Glieder lagen

in alle Himmelsrichtungen verstreut

hätte man sie zurückverlangt

sie wären unauffindbar gewesen

nun da auch die letzten Wörter

ihrer Auslieferung zugeführt wurden

ab aufs Schafott

legte man sein Haupt-

Wortwörtlich auf den Stein

schliff die Klinge

und spaltete den Kopf entzwei

sodass neue Grenzen entstanden.

 

 

Raoul Eisele

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