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ausgabe #85/86. prosa. su tiqqun

muße kommt von müssen


Muße meint nicht „nichtmüssen“, sondern verfügbare Zeit, die nicht durch den Zwang eines äußeren Zwecks  entstellt wird.  Die Alltagssprache setzt die Muße jedoch mit der griechischen Acedia (der ἀϰήδεια) in ein Boot. Acedia meint Unzulänglichkeit oder Trägheit des Herzens. Die späteren Christenmacher dämonisierten die Muße als Todsünde Sieben, die das Nichtstun verkörpert.

Das Wort Muße ist aus dem Althochdeutschen und Niederländischen hervorgegangen. Als MuoȜe war sie mit dem dem Verb „müssen“  verwandt und benannte einen Zustand, der jedem die Möglichkeit gibt, etwas zu tun, das getan werden muß, etwas, das das menschliche Sein verbessert. Stattdessen ist die Muße so nach und nach zum Hangover verkümmert.

Karl Marx hingegen hatte gegen die Muße nicht nur keine Einwände, er wertete ihr Vorhandensein in der Gesellschaft als Index ihres Reichtums. Ein von ihm (zustimmend) zitierter Ökonom schrieb: „Eine Nation ist wirklich reich, wenn nur sechs statt zwölf Stunden gearbeitet wird. Reichtum ist verfügbare Zeit, und sonst nichts.“ [1] Marx ergänzte: „Zeit, die nicht durch unmittelbar produktive Arbeit absorbiert wird, sondern zum enjoyment, zur Muße, so dass sie zur freien Tätigkeit und Entwicklung Raum gibt. Die Zeit ist der Raum für die Entwicklung der faculties etc.“ [2].

    Daraus wurde nichts. Um 800 kaprizierte der erste Bedeutungswechsel die angelsächsische mȎta und die mittelniederländische muete. Karl der Große und mit ihm die feudalen Besitzverhältnisse waren auf dem Vormarsch in die mitteldeutschen und slawischen Gebiete. Im Slawischen gab es die MuoȜe nicht, sondern die досу́г  (russ.) – die dem Besonderen, dem Höchsten zustrebte, im Polnischen die wolne chwile – die freie Zeit oder Zeit zu wollen. Das Wort wolne vereint die Bedeutungen frei und willentlich gleichermaßen.

Die durch Karl den Großen nach dem Bedeutungswechsel der MuoȜe  entstandene müßig gewordene Gefolgschaft – Expansion fertig, Gebiet erobert – bekam einen Sonderstatus. Diejenigen, die durch standesgemäßes Vermögen berechtigt waren, kein Handwerk oder Gewerbe zu betreiben, wurden nun zu müeȜecgengern. Sie hatten genug Zeit, ihre Zeit anders zu verbringen als die von Hand Schaffenden, die Gewerbetreibenden und die Bauern sowieso. Auch Mönche waren in gewisser Weise Handwerker, sofern sie ihr ganzes Leben alte Folianten abschreiben mußten oder Gemüsegärten anlegten. Für den, der genug Allod zu Lehen erhielt, feudales Eigenkapital, wurde die Option, etwas tun zu müssen, zum Privileg, zum müßigen Weg, um das eigene Leben zu verbessern, das wiederum das der anderen schwer machte. Die Herrschenden gingen mit untätigen Händen unproduktiv einher, ritten durch ihre Lande, sahen auf die von Hand Produzierenden herab, langweilten sich, bekämpften in Propagandafeldzüge die freie Zeit und bezichtigten jeden Nichtstuer niederen Standes des Müßigganges, um von sich selbst abzulenken. Sie kamen auf dumme, abstruse, unkluge Gedanken, verfaulten bei lebendigem Leib und dachten sich die absonderlichsten Zerstreuungen aus. Sie kultivierten ihr „standesgemäßes“ Vermögen, indem sie sich sinnlos auslebten.

Die Lebensentwürfe der Besitzenden sind vornehmlich überflüssig und unnötig, die Lebensentwürfe der denkenden Zeitvergeher, der Schriftsteller, Künstler und Geistesschaffenden schlimmstenfalls eine Naturverschmutzung, bestenfalls Aufklärung. Letztere denkend Sehenden, der Zeit Zuschauenden brauchen Papier, Rechner, Verleger, Galerien, Theater u. v. m, sie verbrauchen eine Menge Produktivkraft, um die Möglichkeiten auszuschöpfen, damit andere das tun oder verstehen, was sie für richtig halten. Oft ist es nicht unbedingt das, was getan werden müßte, aber hinsichtlich dessen immerhin eine Sinnstiftung.

Die Reichen haben die MuoȜe, pervertiert, die Besitzlosen die MuoȜe, verlernt. Für sie gibt es nur noch das müssend Müssen. Sie machen aus der Muße eine dumpfe, hässliche Beschäftigung, die Freizeit genannt wird und von vielen Unfreien als Erbauung begehrt wird, indem sie Touristen, zur elften Plage werden, die vor lauter Sinnlosigkeit jedes Wochenende die Cities zumüllen, abfeiern und zugrölen. Diese überflüssige, sinnlose, umweltschädigende, lärmende Plage, diese postmodernen Beutereisen, die jedes Unesco-Kulturfleckchen mit Gaffern und Selfiesten überschütten, diese Profitorgie der Stadtvermarktung, die suggeriert, dass in der Freizeit etwas getan werden muß, das sich selbst dient, wie shoppen, in den Seilen hängen, Bungee, Pappbecher in Büschen entsorgen, Kontakte erobern usw., diese Art von freier Zeit setzt den Ausbeutungszwang fort. Man wird verkrüppelt, um irgendeinen einen Wert verwerten zu müssen.

Muße jedoch ist, das zu tun,  was den Reichtum einer Gesellschaft vermöge einer immer geringer werdenden Verausgabung menschlicher Arbeitskraft vermehrt, also etwas, das zur досу́г führt, zum Höchsten und sich damit der Natur beugt und nicht Pseudo-Aktivitäten. Pervertiert zur „Quality Time“ dient die Muße nicht mehr der schöpferischen Verwendung freier Zeit, sondern einem protestantischen Ethikwahn, maßlosem Gelderwerb und Plackerei, was unmöglich den Genuss von Zeit freisetzen kann.


Su Tiqqun 


[1] In: Karl Marx, Theorien über den Mehrwert III, MEW 26.3, S. 252

[2] Ebd.

 

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