ausgabe #87/88. prosa. dominik leitner
common people
Gestern Nacht habe ich verlernt zu träumen“, sagst du und meinst: ‚Ich habe endlich damit aufgehört, mir Illusionen zu machen’.
Wir sind gerade zwischen deinem dritten und meinem vierten Bier als du mir davon erzählst. Dass es einfach so passiert sei, dass es wirklich so ist, wie viele sagen. Dass es irgendwann einfach Klick macht – und dann ist es vorbei. Vollkommen schmerzlos; und ohne eine Möglichkeit noch einmal umzukehren. Du sagst es mit so einer ruhigen Stimme, du wirkst erholt, wirkst vollkommen entspannt. Da stimmt doch etwas nicht mit dir, oder?
„Weißt du“, sagst du, „es fühlt sich gut an, wenn es aufhört“ und du meinst: ‚Natürlich fehlt etwas, es fehlt doch immer etwas, aber dieses ständige Pushen, dieses verdammte Streben nach Unerreichbarem, das fehlt dir nur ein bisschen’. Und ich glaube dir nicht, aber das weißt du. Du weißt, dass ich noch immer diese verkappte Typ bin, der selbst nach dem vierten Bier nicht aufhört, durch die großen Kastanienäste hindurch in den Himmel zu blicken und der damit einfach nicht aufhören kann, weil er noch nicht bereit ist, ein Ende zu akzeptieren. „Erst der Tod wird dir zeigen“, legst du mir immer diese Worte in den Mund, so wie jetzt auch, „was du schlussendlich nicht erreicht hast.“
„Ich weiß das jetzt schon“, sagst du, „das ist beruhigend“, und meinst: ‚Was hat uns all das je gebracht? Außer Angst und Enttäuschung? Außer akribischer Planung und fantasielosen Schlussstrichen’. Du hast resigniert, hast aufgehört und hast gleichzeitig damit angefangen plötzlich zufrieden zu sein. Ich verstehe dich einfach nicht.
Dabei warst du es doch immer, die nie nicht auf dem Sprung sein konnte. Die auf Hausdächer geklettert ist, immer mit dem Dosenbier in der Hand, die keine Grenzen kennen wollte, nicht im Kopf noch irgendwo anders. Doch jetzt mauerst du dich ein. Siehst du das denn nicht? „Es reicht“, sagst du und du meinst: Was will ich denn noch? Ich habe eine Wohnung, einen Job, habe Freunde, manchmal Sex, manchmal auch guten Sex und außerdem bin ich ja immerhin schon dreißig. Und du lachst, weil dreißig ja in Wahrheit auch noch kein Alter ist und du gerade unabsichtlich Willi Molterer zitiert hast.
„Es sind die Umstände“ sagst du und du meinst damit ganz einfach die Umstände. Die ganze Gesellschaft, sie sehnt sich nicht mehr nach Größerem, nach Höherem, sie suhlt sich nur mehr in Niedertracht. Es geht uns doch allen nicht mehr darum, für eine bessere Welt zu kämpfen. Uns muss es nicht unbedingt besser gehen, nein, uns reicht es doch schon, wenn es anderen wenigstens etwas schlechter geht als uns.
Und wenn dann der 31-jährige neue Molterer hinter die Mikrofone tritt und uns erzählt, dass sich Leistung endlich wieder lohnen muss, dann hat er wohl alles erreicht, was er wollte, er ist ganz oben und konnte Routen schließen, er müsste eigentlich ausgeträumt haben, aber offenbar strebt er noch weiter. Wahrscheinlich wird er all das auch erreichen, denn die Welt liegt ihm doch zu Füßen, schon seit Jahren, wohl schon von Beginn an. „Und das ist der Unterschied“, sagst du und meinst: ‚Er lebt von Privilegien, ich vom Überziehungsrahmen des noch immer nicht umgestellten Studentenkontos’.
„Du musst das doch auch sehen. Du kannst doch nicht so dumm sein“, sagst du und willst mir wahrscheinlich gar nicht derart böse zu nahe treten. Vielleicht bin ich dumm, ich weiß es nicht, oder nein, natürlich bin ich dumm. Oder naiv oder wie man es auch immer nennen mag.
Ich möchte dich gerne in den Arm nehmen, möchte dir sagen, dass du ja wahrscheinlich recht hast, aber du das eigentlich noch nicht sehen sollst. Das Leben ist doch eine Überraschungsparty, und die größte Überraschung dabei ist, ob es überhaupt eine Überraschung geben wird. Vielleicht geht es ja völlig still zu Ende, weil da einfach nichts geplant war für dich und mich, vielleicht ist da einfach gar nichts vorgesehen für uns, aber vielleicht wartet die Überraschung ja bereits an der nächsten Kreuzung, also rein metaphorisch gesprochen natürlich. Ich würde dich gerne in meine Umarmung hüllen und würde dir sagen: „Wenn es sein muss, dann träum ich einfach für dich mit“ und meine: Du machst mir Angst, weißt du? Ich habe Angst um dich und habe Angst vor dir; weil du so verdammt kühl bist, obwohl dich doch das Wissen über deine Zukunft eigentlich verrückt machen müsste.
Der Gastgarten ist leerer geworden, viel stiller als sonst und ich weiß noch, wie wir hierhergekommen sind. Nicht heute, sondern insgesamt. Wir wie damals von zuhause ausgezogen und in die große Welt aufgebrochen sind, mit unseren Köpfen voller Träumen, mit dem Taschengeld der Eltern, dem orangenen Studentenausweis und einer ersten Einladung ins Loco. Ich hatte noch längere Haare damals und du hattest noch nicht verlernt zu träumen, weißt du?
Zehn Jahre sind seitdem vergangen und man hat dir die Grenzen aufgezeigt, erzählst du. „Man ist ja jung und dumm“, sagst du und ich merke, dass dir die Erinnerung an diese Zeit weh tut. Es war eine schöne Zeit, oh ja. Das war wahrscheinlich unser Traumhöhepunkt, alles war offen für uns, alles wollte von uns erreicht werden. Wir konnten ja auch nicht anders. „Man hat uns das ja regelrecht geimpft“, sagst du, „dass wir auch alles erreichen können, wenn wir uns nur genügend anstrengen“.
Und natürlich versteh ich, was du meinst. Jeder normale Mensch sieht es doch, dass es nicht einfach nur reicht, sich genügend anzustrengen. Dass man sich zwar, wie man so gern sagt, einen Haxen ausreißen kann, aber außer einem Beinstumpf bleibt am Ende nicht viel über. Ich weiß es doch, meine Liebe, natürlich weiß ich das. Ich bin ja auch nicht wahnsinnig. „Aber frustriert dich das nicht?“, fragst du und ich lüge dir etwas vor. „Es wird sich irgendwann lohnen“ und du weißt, dass ich lüge. Natürlich weißt du das.
Aber was bringt es schon, sich darüber aufzuregen? Das war mir doch von Anfang an klar, dass es manche leichter haben werden als ich, deutlich leichter, und manch andere auch deutlich schwerer. Ich kann mich ja glücklich schätzen, für das was mir ermöglicht wurde. Dass ich jetzt besser sein muss als einer, der von seinem Elternhaus schon mit einem völlig anderen Background ausgestattet ist, das war mir doch schon immer klar. Ich wäre ja wirklich dumm, wenn mir das bis heute noch nicht bewusst geworden wäre.
Weißt du noch damals, als wir gemeinsam in Wien gelandet sind, wir gemeinsam durch die Nächte stolperten. Als wir über alles geredet haben. Was uns erwarten wird und was wir bisher schon erreicht haben. Weißt du noch, was wir für eine Scheißangst hatten? Und trotzdem haben wir nie davor zurückgeschreckt, es zu versuchen. Wir waren glücklich, weißt du noch? Weil uns alle Türen offenstanden, also wir glaubten das zumindest und auch noch nach den ersten Rückschlägen haben wir uns noch viel zu lange in diesem Glauben gelassen. Du glaubst jetzt nicht mehr. Ich versuche es immer noch.
„Die Sterne standen auch schon mal besser“, sage ich und du schüttelst deinen Kopf und lachst. „Die Sterne, ach komm. Die Sterne … du weißt doch, dass sie immer an derselben Stelle sind.“ Du schaust hoch, streckst deinen Zeigefinger aus: „Schau, der große Wagen. Der steht immer an dieser Stelle, jeden verdammten Tag.“ Ich folge deinem Zeigen, sehe ihn auch, und ein paar Lichtjahre dahinter zieht ein sterbender Stern seinen Schweif hinterher. Ich sage nichts, ich schau nur kurz zu dir rüber und es kommt mir fast vor, als würdest du etwas lächeln.
Als der Kellner das nächste Mal vorbeikommen, zahlen wir und bleiben noch kurz schweigend sitzen. Unser gemeinsamer Abend wird gleich zu Ende gehen und ich möchte dich am liebsten so nicht gehen lassen. Aber als wir den Gastkarten mit den alten großen Kastanienbäumen verlassen, bemerke ich, dass du noch einmal, ganz kurz, durch die Blätter hindurchschaust. Dir die Sterne suchst. Nur kurz bleibt dein Blick dort haften, aber lange genug, damit noch etwas Hoffnung in mir entsteht, dass du es vielleicht ja doch noch nicht völlig verlernt hast.
Dominik Leitner