editorial. ausgabe #89. evelyn schalk
editorial
über wohnen und nicht wohnen
Es klingt selbstverständlich, es sollte und muss es
sein, ist es aber für Millionen von Menschen nicht: ein Dach über dem Kopf. Es
bedeutet Schutz, Geborgenheit, Rückzug, Sicherheit. Was, wenn dieses Dach
fehlt? Dieses Fehlen hat soviele Gesichter, doch immer trifft betrifft es das
Elementarste. Die Daseinsgrundlage. Wer keine Adresse hat, existiert nicht,
fällt aus dem System, der Sichtbarkeit, der Struktur, dem Netz.
Wohnen heißt Leben. Und Nicht-Wohnen… –
Wer fragt nach den Fehlenden?
Und wer organisiert
Widerstand, versucht Veränderung, schafft Alternativen?
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„Die fabelhafte Welt des
Widerstands.“
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„Wo
Profit und Rendite draufsteht, steckt Verdrängung und Obdachlosigkeit drin!“ Beide Fotos : Victoria Kumar
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Über Wohnen und Nicht Wohnen
Nicht Wohnen bedeutet:
Auf der Straße
Nicht Wohnen bedeutet:
Zwangsräumungen
Nach
wie vor stehen quer durch Europa Delogierungen und Zwangsräumungen an
der Tagesordnung. Egal ob in glühender Sommerhitze oder eisiger
Winterkälte, Menschen werden auf die Straße gesetzt, wenn sie horrende
Mieten in gentrifizierten Wohnhäusern nicht mehr bezahlen können und der
soziale Wohnbau radikal privatisiert wird. In Griechenland, Spanien, am
Balkan, aber auch in Mitteleuropa, unter tatkräftiger Forcierung durch
Austeritätspolitik und internationale, nicht zuletzt österreichische,
Banken.
Die Betroffenen nicht allein zu lassen,
ist die wichtigste Akutmaßnahme gegen Zwangsräumungen. Die grundlegende
Forderung muss jene nach leistbarem Wohnen, der Deckelung von Mieten
und Stadt für alle sein. Durch gemeinschaftlichen Widerstand wurden
Delogierungen immer wieder erfolgreich verhindert. Zuletzt etwa in vier
Fällen in der serbischen Hauptstadt Belgrad, als Bewohner*innen aus
ihren Wohnungen geworfen werden sollten und sich zusammen mit
Freund*innen, Nachbar*innen und Kolleg*innen dagegen wehrten. „Community
Support was key. […] We saw great examples of such courage and justice
this week: people interested in the fate of their friends and
acquaintances played a decisive role. The struggle for the right to a
home is aimed against the united power of government and capital.“
https://www.facebook.com/europeancoalition/posts/2353002838112096 und
http://zakrovnadglavom.org
Die
vereinte Macht von Staat und Kapital hat auch das „Beste Hotel Europas“
zum Schließen gezwungen. Nur drei Tage nach Antritt der neuen (alten)
Regierung und der damit einhergehenden konservativen Machtübernahme in
Griechenland war das Räumkommando vor den Türen des besetzten
City Placa
in Athen zur Stelle. Das ehemalige Luxushotel stand leer, bevor es dann
drei Jahre lang Aktivist*innen zusammen mit über 400 Geflüchteten
selbstorganisiert und menschenwürdig beherbergte. Diese humane Zuflucht
ist nun Geschichte. Die Solidarität, die Erfahrung, die unverbrüchlichen
Bindungen derer, die Tag für Tag für diese Alternative kämpften,
bleiben.
https://www.fr.de/politik/griechenland-schluss-solidaritaet-basisdemokratie-12838849.html
Nicht Wohnen bedeutet:
Lager auf Müllhalde
An
der bosnisch-kroatischen Grenze werden Menschen von der kroatischen
Polizei systematisch zurückgeprügelt und landen – auf der Müllhalde.
Dort hat die Stadtverwaltung von Bihać, da das offizielle Lager der IOM
überfüllt ist, das Camp in Vučjak errichtet und 800 Menschen auf eine
ehemalige Mülldeponie zwangsumgesiedelt. Es fehlt buchstäblich an allem:
Medizin, Schuhe, Nahrung. Ein paar Kilometer von Österreich entfernt
haben Menschen nichts zu essen. Das bosnische Rote Kreuz hat nicht
einmal die Ressourcen, eine sättigende Mahlzeit pro Tag für alle
bereitzustellen. Sie fliehen vor Krieg, Hunger, Menschenverachtung – und
finden Gewalt, Hunger, Menschenverachtung. Die Minimalversorgung wird
von einem mehr oder weniger zufällig entstandenen Team Freiwilliger
organisiert, die auch laufend über die Situation vor Ort informieren.
Große internationale Organisationen sind nicht präsent. Der Journalist
Dirk Planert, der schon während des Bosnienkrieges Hilfslieferungen nach
Bihać brachte, ist seit der Zwangsumsiedlung der Leute in Vučjak, hat
mit seinem Team ein Ambulanzzelt eingerichtet, kauft mit Spendengeldern
Lebensmittel, versorgt die Geflüchteten, hunderte täglich, und
dokumentiert ihre Verletzungen, wenn sie von gescheiterten Versuchen,
die Grenze nach Kroatien und damit in die EU zu überqueren,
zurückkommen. Bei diesen Versuchen wird ihnen von der Polizei alles
abgenommen, Kleidung, Schuhe, Schlafsäcke verbrannt, Handys zerstört,
Geld einkassiert – und dann zugeschlagen. „Ein Junge aus Afghanistan hat
die ganze Nacht geweint“, so Planert, „ein anderer hatte über 41 Grad
Fieber. Wenn wir manchmal versuchen, die schwersten Fälle ins lokale
Krankenhaus zu bringen, schicken sie sie zu uns zurück, zur ‚ärztlichen
Versorgung‘, die wir eben gerade nicht wie nötig leisten können.“ Seine
Bilder zeigen die Striemen, Wunden, Verletzungen, die die
Polizeiangriffe auf den Körpern der Flüchtenden hinterlassen.
Mittlerweile haben zahlreiche internationale Medien über die
katastrophale Lage und die illegalen Push-Backs an den Grenzen sowie die
systematische Polizeigewalt berichtet. Geändert hat es nichts.
Vor
kurzem ist ein Mann, dem zuvor offenbar der Zutritt zum offiziellen Camp
verweigert wurde, von einem Zug überrollt und getötet worden. Als er
nicht wusste wohin, war er auf den Gleisen eingeschlafen.
Warum
ausgerechnet eine Müllhalde? Die offizielle Begründung lautet: Hier
müssen sie keine Miete zahlen, der Grund gehört der Stadt. Aber es ist
ganz offensichtlich: Man will es für die Geflüchteten hier so
unerträglich und beschissen wie möglich machen“, so Planert. „Aber wo
sollen sie denn sonst hin? Einen anderen Weg gibt es nicht mehr.“ Wie
lang er noch bleiben will? „Keine Ahnung. Wenn wir gehen, haben sie
niemand mehr.“
Wer mehr wissen und vor allem helfen will, kann Dirk
Planerts Berichten zur Lage vor Ort folgen https://www.facebook.com/dirk.planert und ihn mit Spenden unterstützen:
DE51 5001 0517 5537 2011 12
Konto-Inhaber: Dirk Planert
Verwendungsweck: Vučjak
Auch der Graz:Spendenkonvoi bloggt zur Lage in
Bihać: https://spendenkonvoi.com/ und https://www.facebook.com/GrazSpendenkonvoi/
Spenden an:
Graz: Spendenkonvoi
IBAN: AT71 1420 0200 1096 3541
Nicht Wohnen bedeutet auch all das
Nach
Wochen den Fuß auf unbekanntes Land setzen, den Blick zurück übers Meer
schicken, wo eine*r nach der*m anderen unter der Wasseroberfläche
verschwunden ist. Für immer.
Beim
schwersten Bootsunglück dieses Jahres ertranken an die 150 Menschen im
Mittelmeer, über 400 wurden zurück in libysche Folterlager geschleppt,
wo derzeit über 6000 Menschen eingesperrt sind. Private Seenotrettung
wird verunmöglicht, die EU rettet nicht, sondern lässt ertrinken, der
italienische Innenminister Salvini weigert sich nicht nur,
Rettungsschiffe in italienische Häfen einlaufen zu lassen, sondern
verwehrte selbst der eigenen Küstenwache mit 155 Geretteten an Bord
tagelang das Anlegen.
Die
Aussichtslosigkeit, die Angst, die Wut in den Banlieues, weit weg von
Notre Dame und den Tourist*innenrouten quer durch Paris.
Das weggerissene Haus nach der Flut, dem Sturm, dem Erdbeben, dem Brand, als erstes fallen immer die Hütten…
Die
viel zu kleine Wohnung, die keinen Schüleraustausch, keinen Besuch,
keine Gäste erlaubt, die Scham, die Tür zu öffnen, wenn es klingelt, das
Festhalten an dieser einzigen kleinen Sicherheit, dieser Enge.
No room of ones own.
Die Insel, die sinkt, weil der Meeresspiegel steigt.
Die Trümmer nach den Bomben, immer und immer wieder, die einmal Dächer, Wände, Räume, Leben waren.
Das Krankenzimmer mit 15 anderen teilen, oder gar keines zur Verfügung zu haben.
Das
nahezu leere Hotel Bristol in Belgrad, dessen Zimmer unter Wasser
gesetzt werden, damit die letzten alten Militärpensionist*innen endlich
ausziehen und der Luxusumbau beginnen kann.
Die Baracken der Erntesklavinnen in Spanien und ihre ungehörten Schreie, nach der wievielten Vergewaltigung.
Der
brennende Grenfell Tower in London, das Baumaterial, gemacht für Feuer
statt für Menschen, von denen 71 in den Flammen starben, aber wieder ein
Block Sozialwohnungen weniger und einer mit leeren Luxusapartments
mehr.
Das kalte Zimmer hinterm Bahnhof, und die Hände um den
Teebecher in der Wärmestube, weil die Heizung wiedermal nicht bezahlt
werden konnte.
Die Angst vor den Tritten der Stiefel an der Außentür,
und die Bereitschaft, das bisschen Raum zu verteidigen, jenseits von
Besitzurkunden, diesseits von Brauchbar- und Notwendigkeit
Eine
der reichsten Gemeinden Österreichs, Saalbach-Hinterglemm, deren
Polizei davor warnt, einem Bettler zu helfen. „Home of lässig“ lautet
das PR-Motto des Ski-Ortes. Zynismus und Menschenverachtung inklusive.
All
der Leerstand für Verfall und Abriss, unbezahlbare Neubauten, all die
ungenutzten Villen mit den unbetretenen Rasenflächen in den Vororten der
Städte.
In Berlin werden erstmals Hausbesitzer*innen enteignet. Häuser sind zum Wohnen da, nicht zur Profitspekulation.
https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2019/06/berlin-wohnungsleerstand-leerstand-mieten-enteignung-treuhand.html
All
die Ferienwohnungen, die 50 Wochen im Jahr niemand betritt, die ganze
Zentren zu Geisterstädten werden lassen oder an Tourist*innen vermietet
werden, aber jedenfalls die Mieten explodieren lassen.
All die sterbenden Dörfer, die leeren Läden, die unversorgten Bewohner*innen.
Dagegen
setzten sich autonome Initiativen, Kooperativen, Neuversuche des
Zusammenlebens. Kollektiv statt Kaserne, heißt es in der Steiermark beim
Wohnprojekt Cambium, das gemeinschaftlichen Wohn-, Arbeits- und
Lebensraum für über 100 Menschen aufbaut.
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Foto: Evelyn Schalk
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Notwendig
sind Wissen und Widerstand, Austausch und Raum, international und lokal
– das Radical Housing Journal berichtet über weltweite Erfahrungen im
Kampf um Wohnrecht für alle, aktivistischer Austausch und
Entwicklungsanalyse sind untrennbar verbunden.
Nicht
Wohnen bedeutet Unsichtbarkeit, Ausschluss, Armut, psychische und
physische Belastung, es bedeutet Gefahr, Gewalt, Unterdrückung. Weltweit
und um die Ecke vor der eigenen Haustür – falls vorhanden.
Wohnen ist weder Gnade, noch Zufall, noch spekulatives Börsenspiel.
Wohnen ist ein Menschenrecht.
Gültig für alle und jede*n Einzelne*en. Überall. Immer.
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(c) copyleft
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Dieses Recht gilt es endlich umzusetzen.
"Das
Menschenrecht auf angemessenes Wohnen (kurz: Recht auf Wohnen) ist
sowohl in Artikel 25 (1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
als auch in Artikel 11 (1) des UN-Sozialpakts verankert. Dieser Pakt ist
keine unverbindliche Absichtserklärung: Er garantiert allen Menschen
Rechte, die kein Staat gefährden darf bzw. für deren Einhaltung ein
Staat zuständig ist."
Amnesty Interantional, s.o.
Evelyn Schalk