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You are here: Home Ausgaben 89 | Juli/Aug 19 über wohnen und nicht wohnen

ausgabe #89. übersicht. evelyn schalk

Über Wohnen und Nicht Wohnen


Nicht Wohnen bedeutet:


Auf der Straße

Bei 40 Grad Hitze in der prallen Sonne einschlafen und mit Verbrennungen oder gar nicht mehr aufwachen. Der Asphalt ist glühend heiß, Wasser oft nicht frei zugänglich. Menschen auf der Straße treffen die immer extremeren Hitzewellen besonders heftig.
https://www.hinzundkunzt.de/obdachlose-wecken-die-in-der-prallen-sonne-eingeschlafen-sind/

„Wenn man einen schlafenden Obdachlosen in der Sonne sieht sollte man ihn aufwecken, damit er sich einen schattigen Platz suchen kann“, so der Aufruf von Streetworker*innen. Die Gefahr schwerer Verbrennungen und von Hitzschlag ist sonst groß. Wasser und Getränke sind logischerweise immer willkommen.
(Dasselbe gilt naturgemäß bei Winterkälte: wecken und versorgen statt ignorieren und erfrieren lassen. Muss man das wirklich betonen? Muss man. Erschreckenderweise.)
https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-02/obdachlosigkeit-wohnungslose-sozialpolitik-zuwanderung-wohnungsnot-deutschland-faq


Nicht Wohnen bedeutet:


Zwangsräumungen

Sich von innen gegen die Tür lehnen, während diese unter dem Schlagbaum des Räumkommandos zersplittert.
https://www.facebook.com/naza.iclalov/videos/2763565557005932/?t=6

Nach wie vor stehen quer durch Europa Delogierungen und Zwangsräumungen an der Tagesordnung. Egal ob in glühender Sommerhitze oder eisiger Winterkälte, Menschen werden auf die Straße gesetzt, wenn sie horrende Mieten in gentrifizierten Wohnhäusern nicht mehr bezahlen können und der soziale Wohnbau radikal privatisiert wird. In Griechenland, Spanien, am Balkan, aber auch in Mitteleuropa, unter tatkräftiger Forcierung durch Austeritätspolitik und internationale, nicht zuletzt österreichische, Banken.

Die Betroffenen nicht allein zu lassen, ist die wichtigste Akutmaßnahme gegen Zwangsräumungen. Die grundlegende Forderung muss jene nach leistbarem Wohnen, der Deckelung von Mieten und Stadt für alle sein. Durch gemeinschaftlichen Widerstand wurden Delogierungen immer wieder erfolgreich verhindert. Zuletzt etwa in vier Fällen in der serbischen Hauptstadt Belgrad, als Bewohner*innen aus ihren Wohnungen geworfen werden sollten und sich zusammen mit Freund*innen, Nachbar*innen und Kolleg*innen dagegen wehrten. „Community Support was key. […] We saw great examples of such courage and justice this week: people interested in the fate of their friends and acquaintances played a decisive role. The struggle for the right to a home is aimed against the united power of government and capital.“
https://www.facebook.com/europeancoalition/posts/2353002838112096 und http://zakrovnadglavom.org

Die vereinte Macht von Staat und Kapital hat auch das „Beste Hotel Europas“ zum Schließen gezwungen. Nur drei Tage nach Antritt der neuen (alten) Regierung und der damit einhergehenden konservativen Machtübernahme in Griechenland war das Räumkommando vor den Türen des besetzten City Placa in Athen zur Stelle. Das ehemalige Luxushotel stand leer, bevor es dann drei Jahre lang Aktivist*innen zusammen mit über 400 Geflüchteten selbstorganisiert und menschenwürdig beherbergte. Diese humane Zuflucht ist nun Geschichte. Die Solidarität, die Erfahrung, die unverbrüchlichen Bindungen derer, die Tag für Tag für diese Alternative kämpften, bleiben.
https://www.fr.de/politik/griechenland-schluss-solidaritaet-basisdemokratie-12838849.html
 
„Weltweit werden Menschen widerrechtlich aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieben – oft mit brutaler Gewalt. Der Schutz vor einer rechtswidrigen Zwangsräumung gilt jedoch auch für jene, die keine Mietverträge oder formellen Rechte an dem Land haben, auf dem sie wohnen. Dazu haben sich Staaten mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und durch den UN-Sozialpakt verpflichtet.“
https://www.amnesty.de/mit-menschenrechten-gegen-armut/wohnen-wuerde/das-recht-auf-wohnen-stoppt-rechtswidrige-zwangsraeumu


Nicht Wohnen bedeutet:


Lager auf Müllhalde

Den Pappkarton über den Boden breiten, aber die Müllkippe darunter nicht mal notdürftig überdecken.
https://www.facebook.com/Weltspiegel/videos/380711552582720/?t=5

Das ist die geschlossene Balkanroute, auf die der ehemalige österreichische ÖVP-Bundeskanzler Kurz so stolz ist. Das sind sie, die „hässlichen Bilder“, die er ankündigte.
https://www.deutschlandfunk.de/polizeigewalt-auf-der-balkanroute-sie-brechen-arme-beine.724.de.html?dram%3Aarticle_id=455251

An der bosnisch-kroatischen Grenze werden Menschen von der kroatischen Polizei systematisch zurückgeprügelt und landen – auf der Müllhalde. Dort hat die Stadtverwaltung von Bihać, da das offizielle Lager der IOM überfüllt ist, das Camp in Vučjak errichtet und 800 Menschen auf eine ehemalige Mülldeponie zwangsumgesiedelt. Es fehlt buchstäblich an allem: Medizin, Schuhe, Nahrung. Ein paar Kilometer von Österreich entfernt haben Menschen nichts zu essen. Das bosnische Rote Kreuz hat nicht einmal die Ressourcen, eine sättigende Mahlzeit pro Tag für alle bereitzustellen. Sie fliehen vor Krieg, Hunger, Menschenverachtung – und finden Gewalt, Hunger, Menschenverachtung. Die Minimalversorgung wird von einem mehr oder weniger zufällig entstandenen Team Freiwilliger organisiert, die auch laufend über die Situation vor Ort informieren. Große internationale Organisationen sind nicht präsent. Der Journalist Dirk Planert, der schon während des Bosnienkrieges Hilfslieferungen nach Bihać brachte, ist seit der Zwangsumsiedlung der Leute in Vučjak, hat mit seinem Team ein Ambulanzzelt eingerichtet, kauft mit Spendengeldern Lebensmittel, versorgt die Geflüchteten, hunderte täglich, und dokumentiert ihre Verletzungen, wenn sie von gescheiterten Versuchen, die Grenze nach Kroatien und damit in die EU zu überqueren, zurückkommen. Bei diesen Versuchen wird ihnen von der Polizei alles abgenommen, Kleidung, Schuhe, Schlafsäcke verbrannt, Handys zerstört, Geld einkassiert – und dann zugeschlagen. „Ein Junge aus Afghanistan hat die ganze Nacht geweint“, so Planert, „ein anderer hatte über 41 Grad Fieber. Wenn wir manchmal versuchen, die schwersten Fälle ins lokale Krankenhaus zu bringen, schicken sie sie zu uns zurück, zur ‚ärztlichen Versorgung‘, die wir eben gerade nicht wie nötig leisten können.“ Seine Bilder zeigen die Striemen, Wunden, Verletzungen, die die Polizeiangriffe auf den Körpern der Flüchtenden hinterlassen. Mittlerweile haben zahlreiche internationale Medien über die katastrophale Lage und die illegalen Push-Backs an den Grenzen sowie die systematische Polizeigewalt berichtet. Geändert hat es nichts.
Vor kurzem ist ein Mann, dem zuvor offenbar der Zutritt zum offiziellen Camp verweigert wurde, von einem Zug überrollt und getötet worden. Als er nicht wusste wohin, war er auf den Gleisen eingeschlafen.
Warum ausgerechnet eine Müllhalde? Die offizielle Begründung lautet: Hier müssen sie keine Miete zahlen, der Grund gehört der Stadt. Aber es ist ganz offensichtlich: Man will es für die Geflüchteten hier so unerträglich und beschissen wie möglich machen“, so Planert. „Aber wo sollen sie denn sonst hin? Einen anderen Weg gibt es nicht mehr.“ Wie lang er noch bleiben will? „Keine Ahnung. Wenn wir gehen, haben sie niemand mehr.“

Wer mehr wissen und vor allem helfen will, kann Dirk Planerts Berichten zur Lage vor Ort folgen: https://www.facebook.com/dirk.planert und ihn mit Spenden unterstützen (s. Spendenkonto unten).


Nicht Wohnen bedeutet auch all das

Nach Wochen den Fuß auf unbekanntes Land setzen, den Blick zurück übers Meer schicken, wo eine*r nach der*m anderen unter der Wasseroberfläche verschwunden ist. Für immer.
https://taz.de/Schweres-Bootsunglueck-im-Mittelmeer/!5613435/

Beim schwersten Bootsunglück dieses Jahres ertranken an die 150 Menschen im Mittelmeer, über 400 wurden zurück in libysche Folterlager geschleppt, wo derzeit über 6000 Menschen eingesperrt sind. Private Seenotrettung wird verunmöglicht, die EU rettet nicht, sondern lässt ertrinken, der italienische Innenminister Salvini weigert sich nicht nur, Rettungsschiffe in italienische Häfen einlaufen zu lassen, sondern verwehrte selbst der eigenen Küstenwache mit 155 Geretteten an Bord tagelang das Anlegen.
https://www.tagesschau.de/ausland/seenotrettung-verteilung-fluechtlinge-103.html

Das löchrige Blechdach in der Roma-Siedlung, am Stadtrand oder weit vorm Dorf, der Hunger darunter, die Diskriminierungen und Gewalt davor, dahinter, drumherum, jeden Tag.
https://www.academia.edu/39936154/_2019_Dimensions_of_Antigypsyism_in_Europe

Die Aussichtslosigkeit, die Angst, die Wut in den Banlieues, weit weg von Notre Dame und den Tourist*innenrouten quer durch Paris.
Das weggerissene Haus nach der Flut, dem Sturm, dem Erdbeben, dem Brand, als erstes fallen immer die Hütten…
Die viel zu kleine Wohnung, die keinen Schüleraustausch, keinen Besuch, keine Gäste erlaubt, die Scham, die Tür zu öffnen, wenn es klingelt, das Festhalten an dieser einzigen kleinen Sicherheit, dieser Enge.
No room of ones own.
Die Insel, die sinkt, weil der Meeresspiegel steigt.
Die Trümmer nach den Bomben, immer und immer wieder, die einmal Dächer, Wände, Räume, Leben waren.
Das Krankenzimmer mit 15 anderen teilen, oder gar keines zur Verfügung zu haben.
Das nahezu leere Hotel Bristol in Belgrad, dessen Zimmer unter Wasser gesetzt werden, damit die letzten alten Militärpensionist*innen endlich ausziehen und der Luxusumbau beginnen kann.
Die Baracken der Erntesklavinnen in Spanien und ihre ungehörten Schreie, nach der wievielten Vergewaltigung.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/missbrauch-auf-obstplantagen-die-erntesklavinnen-europas.1076.de.html?dram:article_id=431513

Der brennende Grenfell Tower in London, das Baumaterial, gemacht für Feuer statt für Menschen, von denen 71 in den Flammen starben, aber wieder ein Block Sozialwohnungen weniger und einer mit leeren Luxusapartments mehr.
Das kalte Zimmer hinterm Bahnhof, und die Hände um den Teebecher in der Wärmestube, weil die Heizung wiedermal nicht bezahlt werden konnte.
Die Angst vor den Tritten der Stiefel an der Außentür, und die Bereitschaft, das bisschen Raum zu verteidigen, jenseits von Besitzurkunden, diesseits von Brauchbar- und Notwendigkeit

Eine der reichsten Gemeinden Österreichs, Saalbach-Hinterglemm, deren Polizei davor warnt, einem Bettler zu helfen. „Home of lässig“ lautet das PR-Motto des Ski-Ortes. Zynismus und Menschenverachtung inklusive.
https://www.derstandard.at/story/2000106722332/touristenort-saalbach-hinterglemm-mobilisiert-gegen-einen-obdachlosen

All der Leerstand für Verfall und Abriss, unbezahlbare Neubauten, all die ungenutzten Villen mit den unbetretenen Rasenflächen in den Vororten der Städte.
In Berlin werden erstmals Hausbesitzer*innen enteignet. Häuser sind zum Wohnen da, nicht zur Profitspekulation.
https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2019/06/berlin-wohnungsleerstand-leerstand-mieten-enteignung-treuhand.html

All die Ferienwohnungen, die 50 Wochen im Jahr niemand betritt, die ganze Zentren zu Geisterstädten werden lassen oder an Tourist*innen vermietet werden, aber jedenfalls die Mieten explodieren lassen.
All die sterbenden Dörfer, die leeren Läden, die unversorgten Bewohner*innen.
Dagegen setzten sich autonome Initiativen, Kooperativen, Neuversuche des Zusammenlebens. Kollektiv statt Kaserne, heißt es in der Steiermark beim Wohnprojekt Cambium, das gemeinschaftlichen Wohn-, Arbeits- und Lebensraum für über 100 Menschen aufbaut.
http://www.cambium.at/

Stadt für alle!
Foto: Evelyn Schalk


Notwendig sind Wissen und Widerstand, Austausch und Raum, international und lokal – das Radical Housing Journal berichtet über weltweite Erfahrungen im Kampf um Wohnrecht für alle, aktivistischer Austausch und Entwicklungsanalyse sind untrennbar verbunden.
https://radicalhousingjournal.org/

Nicht Wohnen bedeutet Unsichtbarkeit, Ausschluss, Armut, psychische und physische Belastung, es bedeutet Gefahr, Gewalt, Unterdrückung. Weltweit und um die Ecke vor der eigenen Haustür – falls vorhanden.
Wohnen ist weder Gnade, noch Zufall, noch spekulatives Börsenspiel.
Wohnen ist ein Menschenrecht.
Gültig für alle und jede*n Einzelne*en. Überall. Immer.
 
Dieses Recht gilt es endlich umzusetzen.
Das Menschenrecht auf angemessenes Wohnen (kurz: Recht auf Wohnen) ist sowohl in Artikel 25 (1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als auch in Artikel 11 (1) des UN-Sozialpakts verankert. Dieser Pakt ist keine unverbindliche Absichtserklärung: Er garantiert allen Menschen Rechte, die kein Staat gefährden darf bzw. für deren Einhaltung ein Staat zuständig ist.
Amnesty Interantional, s.o.



Evelyn Schalk


DE51 5001 0517 5537 2011 12
Konto-Inhaber: Dirk Planert
Verwendungsweck: Vučjak
Auch der Graz:Spendenkonvoi bloggt zur Lage in Bihać:

Graz: Spendenkonvoi
IBAN: AT71 1420 0200 1096 3541
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