ausgabe #89. bericht. joachim hainzl, eva ursprung
von hundehütten und kirchtürmen
Bei uns am Land, da hatten wir früher einige Haustiere. Schon als ganz kleines Kind zog es mich in deren Behausungen. Da war die Hundehütte unterm inzwischen längst gefällten Apfelbaum, und der Kettenhund, der niemanden an sich ran ließ außer mich, dem Kleinkind, das in seine Hütte kroch. Oder der kleine Stall, der ebenfalls längst abgerissen worden ist. Heute befindet sich dort eine Art Mist- oder Komposthaufen. Dort drinnen waren links die Hühner, rechts oben der Platz für das wenige Heu und drunter, in einem Verhau, da waren zuerst die beiden Schweine eingepfercht, später dann die Legehühner und noch später die Fasane, die dann zum Gaudium der Jäger freigelassen wurden. Mich aber faszinierten am meisten die Hühner, mit denen ich vielZeit verbrachte. Ich beobachtete sie, wie sie gegen Abend laut gackernd ihre soziale Position auf der hierarchisch funktionierenden Hühnerleiter einnahmen. Und sogar durch jene kleine Öffnung kroch ich, die hinaus führte in den Freilaufbereich.
Im Haus am Land, da betrieb meine Großmutter ein kleines Entbindungsheim. In jenem Zimmer, in dem ich später schlief und wo mein Kleiderkasten stand (ich kann nicht sagen, dass ich dort wohnte), wurde ich selber geboren und hunderte Frauen brachten dort ihre Kinder auf die Welt. Ich kann mich erinnern, dass meine Schwester und ich, wenn wir die ersten Schreie der Neugeborenen hörten, oft versuchten, deren Geschlecht zu erraten. Und ich habe noch das Bild vor mir, wie den Babys in den Fußballen gestochen wurde, um ihnen einige Blutstropfen abzunehmen.
Der freie Blick aus dem ersten Stock, in Richtung der Berge, hinter denen die Sonne verschwindet und den Himmel drum herum in Rottöne taucht, das war ein Gefühl von Freiheit. Umso mehr hasse ich es, dass dieser Blick inzwischen verstellt ist durch die viel zu nahe gerückten neugebauten Häuser. Wie singt Arik Brauer? „Sie hobn a Haus baut, sie hobn a Haus baut und uns die Sicht verstellt …“ Aus dem Fenster zu schauen und dabei auf Häuser oder gar durch Fenster in anderer Leute Leben zu blicken, das kann ich bis heute absolut nicht ausstehen.
Was es in diesem Haus am Land, in dem ich die ersten rund 16 Jahre meines Lebens verbrachte, auch gab und immer noch gibt, das ist das Herrgottswinkerl in der Küche. Jener Ort, den das Kreuz sich mit Fotografien zu früh Verstorbener teilt, mit dem Sinnspruch auf Plastik („Und wenn dich auch das Schicksal auf allen Linien schlägt, bleibt immer noch die Haltung, mit der du es erträgst.“) und mit Urlaubs-Mitbringseln, zwischen denen sich im Laufe der Jahre der Staub fängt. Heute habe ich bei mir zu Hause zwar nichts Religiöses in meiner Küche herumstehen, aber auch hier habe ich mein Regal an der Wand, das voll ist mit weit Her- und Mitgebrachten. Die Küche war und ist für mich immer schon einer der wichtigsten Wohnbereiche – im Unterschied zu Wohnzimmern mit ihren großen Sofas und Fauteuils, die wenig an Umgestaltung und Umnutzung zuließen. Außer, wenn wir Kinder unter Decken und Sofateilen uns unsere eigenen Höhlen bauten…
Warum habe ich so viele Erinnerungen an dieses Haus? Weil ich dort bisher am längsten gewohnt habe? Weil es so viele Funktionen hatte, etwa im Keller, wo es einen Most- und Apfelkeller, einen Holzkeller und eine Garage gab, die im Herbst bis zur Decke vollgestopft war mit Woazstriezeln, die später in den Winter hinein gemeinschaftlich geschält wurden. Oder womöglich auch wegen des Umstands, dass es keinen Blitzableiter gab und meine Großmutter uns bei nächtens herannahenden Gewittern immer aufweckte, damit wir vom ersten Stock in die Küche gingen. Denn was, wenn der Blitz einschlägt und die Holztreppe als einzige Verbindung nach unten Feuer fängt? In absolut unguter Erinnerungen sind mir diese verschlafenen Stunden mit den damit verbundenen Routinehandlungen: Kerzen anzünden, Goldschmuck ablegen (da er Blitze anziehen könnte) und der offene Balkontürspalt (damit Kugelblitze auch wieder entweichen könnten). Dazu das Zählen: „21, 22 …“ und die Spitze der Angst, wenn du über „21“ gar nicht mehr hinauskommst, weil Blitz und Donner für Augen und Ohren in einem Moment zusammenfallen. Noch als Erwachsener hatte ich lange Zeit ein sehr angespanntes Gefühl bei Gewittern und ich ärgerte mich über diese übertriebene, anerzogene Furchtsamkeit. Dass später dann tatsächlich einmal der Blitz in das Haus einschlug und dabei zwar keinen Brand, aber doch sichtbare Mauer- und Leitungsschäden anrichtete, passte da so gar nicht zu diesem Widerwillen.
Endlich ein „eigenes“ Zimmer
Ich war schon Student, da hatte ich, als Teil einer größeren StudentInnen-WG, zum ersten Mal ein eigenes Zimmer. Das Beste daran: Gestaltungsmöglichkeit. Bis dahin fühlte ich mich eher wie ein Bettgeher, der in bereits voll eingerichteten Zimmern mit holzschweren, dunklen Einbaumöbeln, nur die Zeit verschläft. Mit irgendwie schon zu bunten Tapeten, die sich im Zimmer meiner Kindheit bis heute erhalten haben und mich wider Willen zum Zeitreisenden machen, während derer ich mich meinen Erinnerungen und Gefühlen ausgeliefert fühle wie ein kleines Boot inmitten turmhoher Wellen.
Und dann war da diese WG, eine politische Studenten-WG, mit einer großen schwarzroten Fahne, die über dem langen Küchentisch wehte. Wir waren vier Männer und eine Frau. Spätestens wenn es um einen Putzplan ging, war es jedoch aus mit unserer männerbewegten Fortschrittlichkeit. „Was, es ist dreckig? Ich sehe nichts.“ Und der nächste: „Ich auch nicht. Der einzigen Person, die Dreck sah und die dies störte, war es daher unserem Dafürhalten unbenommen, auch selber zu putzen. In dieser Zeit lernte ich auch, mich daran zu gewöhnen, dass einer meiner Mitbewohner ständig nackt durch die Wohnung lief und wir uns, egal ob Männer oder Frauen, zur Begrüßung immer auf den Mund küssten. Und ich erfuhr, dass die Polizei es mit der Rechtmäßigkeit nicht immer so genau nahm, wenn es darum ging, unsere Wohnung bzw. Zimmer zu betreten.
Heute ist es für mich unvorstellbar, dass sich im Jahr 1990, bei meinem Umzug nach Innsbruck, mein ganzes Hab und Gut in einem Auto samt Anhänger transportieren ließ. So wurde denn auch die Frage nach dem Wohnen für mich als Sammler in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einer Frage der benötigten Raumressourcen in Relation zur eigenen finanziellen Potenz. Denn als Sammler brauche ich sukzessive immer mehr Platz und der kostet Geld. Zu leidvoll sind mir dabei die Erfahrungen mit fehlgeschlagenen Auslagerungsversuchen in zu guter Letzt zu feuchte Kellerabteile in Erinnerung. Ein Altbau passt daher gut für mich. Zwar beneide ich schon auch immer wieder jene, die es sich in ihren schmucken Häuschen im Grünen, und von Hecken abgeschirmt, ungestört gemütlich machen. Aber spätestens wenn ich diese teilweise abgeschrägten, niedrigen Räume sehe, weiß ich, dass dieser Wohnstil niemals mit meinem Lebensstil vereinbar sein wird.
Von Jahr zu Jahrtrifft daher der Satz stärker zu, dass ich meinen Altbau-Wohnraum eher nach Kubik- denn nach Quadratmetern berechne. Neben übereinander gestellten Ikea-Regalen, die dadurch bis auf fast drei Meter Höhe reichen, gehört zu dieser Platznutzung auch ein Hochbett. Insofern stelle ich inzwischen leicht verwundert fest, dass mein Wohnstil wohl immer noch stark an etwas Studentisches erinnert. Aber Ledersofas und andere Accessoires „bürgerlicher“ Wohnkultur lösen in mir weiterhin keinerlei positive Reaktionen aus.
Auch heutzutage habe ich noch dieses Bedürfnis, nach dem „freien“ Blick aus dem Fenster. Sogar Hotelzimmer, in welchen ich nur wenige Tage verbringen soll, wechsle ich, wenn der Blick aus dem Fenster sich im lichtlosen Lichtschacht verheddert.
Umso mehr ist Teheran für mich eine Herausforderung. Denn hier wird mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit abgerissen und neu gebaut und es scheint für viele BewohnerInnen in diesen Häusern egal zu sein, was man sieht, wenn man aus dem Fenster blickt. Sogar in den reicheren Vierteln und höher oben bist du nicht davor geschützt, dass dich ein Neubau zuerst monatelang mit Baulärm tyrannisiert und dir dann die Sicht auf die ständig ausufernde Stadt oder die hinter Teheran bis auf knapp 4000 Meter ansteigende Bergkette nimmt.
Was am Ende bleibt
Die am kürzesten zurückliegende Erfahrung war in den letzten Monaten die Wohnung eines verstorbenen Verwandten auszuräumen. Es war ein schmerzvoller Prozess des Entleerens, des Behaltens, Hergebens oder Wegwerfens. Sukzessive verloren die Räume und die Dinge darin an Persönlichkeit und wurden zu zusammengestellten Kategorien des Brauch- und Unbrauchbaren. Und im Laufe der Zeit sank die Energie und Bereitschaft, sich darauf einzulassen, die Dinge als Teil einer geschätzten Identität zu sehen, eines Menschen, der über vierzig Jahre in dieser Wohnung gelebt hatt. Am Ende war es ein immer brachialeres Vorgehen und zum Schluss die Übergabe des Ausräumens und Entsorgens an andere. Nun ist die Wohnung leer, ausgemalt, entkernt und der meisten Spuren beraubt, die bis vor Kurzem an das Leben des hier Lebenden erinnert haben. So hat sich die Wohnung wieder verwandelt – in eine Immobilie, die bewertet wird nach Erhaltungszustand, Größe und Stadtnähe. Erhellend war die Aussage des Maklers. Die Wohnung sei deswegen weniger wert als andere im selben Haus, weil sie falsch liege und am Balkon keine Nachmittagssonne hat. Denn das würden sich KäuferInnen wünschen, auch wenn sie dann diesen sonnigen Balkon kaum nützen würden oder draufkämen, dass die Sonne viel zu heiß runterbrennt auf diese „richtig“ gelegenen Wohnungen.
Richtig wohnen
Ich habe so eine „richtig“ gelegene Wohnung in einem Hochhaus aus den 1970er Jahren. Das Haus ist hässlich, aber vom Balkon aus sehe ich auf einen riesigen, verwunschenen Stadtgarten mit alten Bäumen und Swimmingpool. An heißen Tagen sind von dort lachende Kinder zu hören, manchmal startet am hauseigenen Parkplatz ein Auto, aber meist ist es ruhig. Das Haus liegt in einer Sackgasse und der Verkehr ist nur aus der Ferne zu vernehmen, abgeschirmt von den hohen, üppigen Bäumen. Früher gab es daneben noch einen Sportplatz, aber seit einem Jahr befindet sich dort eine Baustelle. Die Wiese ist einem Hochhaus gewichen und der Blick auf den Kirchturm damit nun verstellt. Das ärgert mich manchmal, weil ich die Uhrzeit am Balkon sitzend gerne von der Kirchturmuhr ablas.
Im Moment sitze ich aber ohnehin wenig am Balkon. Die Baustelle dröhnt und kreischt, die Nachmittagssonne knallt mir auf den Kopf und in die ohnehin überhitzte Wohnung. Ventilatoren können dagegen wenig ausrichten, die Stadt ist ein glühender Brutkessel. Der Asphalt speichert die Hitze bis in die Nacht und selten erbarmt sich ein kühles Lüftchen. In letzter Zeit wehen eher an die Tropen erinnernde Stürme durch die Stadt und die Baumkronen tanzen wild.
Asphalt und Beton gibt es nun auch anstelle der benachbarten Wiese. Das entspricht einem österreichweiten Trend: von 2001 bis 2017 nahm die verbaute Fläche laut Statistik Austria um rund 25 Prozent zu. 2002 legte die Bundesregierung einen Maximalverbrauch von 2,5 Hektar pro Tag fest, im Schnitt der letzten 10 Jahre wurden jedoch 20 Hektar Boden täglich versiegelt. Das entspricht der Fläche von 30 Fußballfelder pro Tag. Die dystopische Vision einer Freundin von einer gänzlich zuasphaltierten Welt rückt näher…
Landflucht und Stadterneuerung
Im Rahmen einer Residency verbrachte ich vor einigen Jahren drei Monate in Judenburg. Das war gut: Ich lebte in einem Neubau am Rande des Hügels und hatte einen weiten Blick über das Tal bis zu den schneebedeckten Bergen. Eine kostbare Solitude, ganz nah am Zentrum der Stadt. Der Weg zum Hauptplatz war weitgehend mit leer stehenden Geschäften gesäumt – die Leerstände in den schönen, alten Bürgerhäusern sind enorm – und auf der Straße waren kaum Menschen zu sehen. Die Luft ist frisch und klar in Judenburg, und trotzdem ziehen viele ins feinstaubgeplagte Graz.
Hier wird wie wild gebaut, man will ja genug Wohnungen haben für den landflüchtigen Nachwuchs. Jede noch so kleine Lücke im urbanen Raum wird gefüllt, Wiesen und Bäume verschwinden. Dabei ist es egal, ob die neu errichteten Mini-Wohnungen an stark befahrenen, lärmenden Durchzugsstraßen liegen. Studierende müssen froh sein, sich überhaupt noch Wohnraum in der Stadt leisten zu können, die Qualität bleibt auf der Strecke.
Städte wie Wien, Paris, Chicago oder New York
gehen andere Wege: Hier entwickelt sich zur Zeit, auch im Rahmen einer
Anpassung an den Klimawandel, ein neues Bewusstsein für das Stadtklima. New
York pflanzt eine Million Bäume und Chicago wirkt den urbanen Wärmeinseln sogar
mit 1,5 Millionen Bäumen entgegen. Die Baulücken New Yorks werden mit
Gemeinschaftsgärten gefüllt, und auf brach liegenden Bahnschienen entstehen
Parks und Grünanlagen. Auch viele stillgelegte Fabrikhallen an den Flussufern
weichen großzügig angelegten Grünflächen, Sport- und Spielplätzen. So denkt man
urbane Zukunft!
Joachim
Joachim Hainzl, Eva Ursprung