ausgabe #91. prosa. matteo colombi
why atmen
Man stellt sich Menschen, die widerstehen, als Menschen in der Not vor, und sie sind es zweierlei: Weil sie sich in einer schwierigen Lage befinden und weil sie ein Gefühl von Notwendigkeit empfinden – denn ihre schwierige Lage besteht darin, dass sie dabei sind, etwas zu verlieren, was sie für ihr Leben als notwendig betrachten. Widerstand ist so gesehen eine Form von Bedürfnis: Man sträubt sich gegen den Verlust dessen, was man benötigt.
Ich möchte in wenigen Worten hier erklären, was ich im Leben brauche und mir gerade abhandenkommt, was ich in meiner Not widerstehe und was das mit Literaturmagazinen wie Beton International oder dem ausreißer zu tun haben kann – zumal Literaturmagazine keine für mich vertrauliche Plattform sind, denn ich habe beruflich viel mehr Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Forschungszeitschriften: Widerstand kann aber zu neuen Verbindungen in der Polis führen, die eine*n auf die Plattformen von anderen Menschen aufmerksam machen.
Die erste Stimme, die mir einfällt, wenn ich daran denke, wonach ich Bedarf habe und was mir allmählich abhandenkommt, ist diejenige Ray Bradburys in Fahrenheit 451:
She didn’t want to know how a thing was done, but why. That can be embarassing. You ask Why to a lot of things and you wind up very unhappy indeed, if you keep at it.
(Bradbury, Fahrenheit 451, 1950)
Bradbury kommt mir seit einigen Jahren immer wieder in den Sinn, weil ich den Eindruck habe, dass man um mich herum vorwiegend darüber diskutiert, wie Dinge (und Menschen) zu funktionieren haben – während die Frage danach, warum sie funktionieren sollen als irgendwie peinlich und unglücksbringend vermieden wird. Es geht Bradbury dabei keineswegs darum abzustreiten, dass die Fragen (und die Antworten) nach dem Grund der Dinge unangenehm bis schmerzhaft sein können; Bradbury meint dennoch, dass schwierige Momente in der Auseinandersetzung mit dem Sinn der Dinge zwar eine Herausforderung, aber auch ein existentielles Bedürfnis sind, weil sie eine generative Funktion haben. Es beschäftigt ihn deswegen die Frage, was geschieht, wenn die Möglichkeit nach dem why in einer Gesellschaft abgeschaltet wird, weil man alle Auseinandersetzungen vermeiden möchte, die in den Geist tief greifen. „Man“ bedeuten dabei für Bradbury sowohl alle Individuen einer Gesellschaft, die lieber gemütlich sorglos als unbequem sorgsam leben möchten, als auch die Machtinstanzen dieser Gesellschaft, welche die Menschen mit Unglück bedrohen, wenn diese beginnen, sorgsam zu sein und den Dingen auf den Grund gehen wollen: Denn Menschen, die so tief nach unten gelangen, könnten auch ein paar Dinge, die oben feststehen, auf den Kopf stellen wollen. Die Macht verwendet in der Regel zwei Strategien, um zu verhindern, dass die Gesellschaft allzu achtsam wird: Sie beantwortet selbst jedes für sie relevante why, und zwar mit verstecktem bis offenem autoritativen oder gar autoritären Anspruch, damit ihre Weltordnung nicht in Frage gestellt wird – uns sie lässt die Menschen verlernen, nach dem Warum der Dinge zu fragen, indem sie das why zugunsten des how abschafft.
Zwei andere Stimmen fallen mir an dieser Stelle neben der von Bradbury ein, um diese zweite Herrschaftsstrategie konkreter darzustellen. Die erste gehört meinem Vater, einem Statistiker, der in der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung tätig ist: Er hat mir einmal gesagt, dass man sich heute in diesem Bereich eher selten fragt, warum es sinnvoll ist, pausenlos irgendetwas Neues für den Menschen zu ermöglichen – denn die bloße Vorstellung, dass irgendetwas möglich sein könnte, gilt an sich häufig als ein ausreichender Grund, um gleich danach zu fragen, how etwas zu verwirklichen ist. Ich und mein Vater, ein Literaturforscher und ein Forscher der exakten Wissenschaften, denken in vielerlei Punkten unterschiedlich, aber wir sind uns darüber einig, dass diese Wissenschaftskultur zum Teil auch aus Bequemlichkeit und politischem Willen entstanden ist: Man möchte sich lieber nicht fragen, ob eine neue Erfindung – eine neue Handlungsmöglichkeit für die Menschen also – gut oder schlecht sein kann, weil diese Frage Angst macht wie eben jede existentielle Frage, die das Dasein der Dinge hinterfragt. Diese Frage lässt sich nämlich mit keiner Sicherheit beantworten, wie ich insbesondere von Ludwig Wittgenstein, meiner dritten Stimme in diesem Text, gelernt habe:
Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft - also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend - er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten –, aber sie wäre die einzig streng richtige.
(Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 1921)
Diese Stelle spielt eine zentrale Rolle in den Diskussionen mit meinem Vater, der sich eher auf die Seite Wittgensteins stellt (ohne hier darauf eingehen zu wollen, dass dieser Philosoph seine Meinung später geändert hat), während ich eher die Position des unbefriedigten Philosophie-Liebhabers vertrete. Mein Vater spürt wie Wittgenstein das Metaphysische, aber er redet nicht darüber – er bleibt still und liest lieber die Psalmen abends vor dem Schlaf; ich möchte dagegen darüber reden: Es ist mir ein Bedürfnis, nach dem existentiellen Sinn der Dinge zu fragen, und das nicht, weil ich endgültig wahre Sätze darüber sagen oder hören möchte, sondern weil ich der Meinung bin, dass diese Fragen und unsere Antwortversuche in unserem Atem enthalten sind – sie fließen, so lange wir leben, in uns hinein und aus uns heraus, ob wir sie laut äußern oder nicht. Ich weiß, dass man an den Atem nicht immer denken muss, denn er geschieht von selbst, oder dass man daran denken kann, ohne darüber zu sprechen, wie in der stillen Meditation – aber es ist gut für mich, manchmal darüber zu reden, damit man sich dessen bewusster wird, wie es einem*r auf dieser Welt geht.
Ich bin Literaturforscher und Akademiker mit der Erwartung geworden, dass mein Beruf mir die Möglichkeit geben würde, über den why-Atem der Menschen und ähnliche Dinge zu spekulieren. Ich habe das erwartet, weil man mir in der Schule die Literaturforschung als humanistisches Wissen präsentiert hat – und Humanisten hatten lange Zeit eben die Aufgabe, an den Universitäten wie sonst wo über Gott und die Welt zu spekulieren (übrigens auch als Natur- und Technikforscher). Ich habe aber festgestellt, dass die heutige Literaturforschung wie die anderen Disziplinen des Geistes die Wittgensteinsche Denkweise verinnerlicht hat: Man fragt weniger why, als man analysiert, how andere why gefragt haben. Das ist für mich auch eine interessante Frage, wenn sie dazu führt, dass man sich von den Gedanken von anderen für die eigene existentielle Fragenstellung inspirieren lässt. Das findet aber an den Universitäten nur wenig statt: Die Literaturforscher*innen scheinen sich hier wie viele Naturwissenschaftler*innen vor existentiellen Fragen zu fürchten – zumindest öffentlich, denn ich glaube schon, dass es ihnen wie meinem Vater passiert, dass sich ihre Forschung manchmal in einen für sie mehr oder minder bewussten Psalm verwandelt, den sie allein rezitieren, wenn sie abends ins Bett gehen, oder den sie lediglich ihren Freund*innen anvertrauen. Das ist gut, aber man sollte Psalmen – wie jeden anderen existentiellen Text – manchmal auch zusammen rezitieren und diskutieren, z. B. an den Universitäten. Ich glaube das zumindest, weil ich denke, dass eine Polis vor allem dadurch entsteht, dass Menschen nach dem Warum der Dinge zusammen fragen. Sie sollten dabei ihre Antworten offen lassen und revidieren, aber es ist eben dieser Prozess, der verbindet: Das gemeinsame Philosophieren macht Zivilgesellschaft.
Ich finde es traurig, dass die akademische Forschung einschließlich der Literaturforschung den humanistischen Ansatz vernachlässigt. Ich finde es traurig, dass man sich komplett in den Dienst eines objektivierenden Wissensparadigmas stellt, das uns beibringt, wie wir Dinge beschreiben bzw. verwirklichen können, aber das uns nicht anregt zu fragen, warum wir Dinge beschreiben bzw. verwirklichen sollen. Dieses objektivierende Wissensparadigma hat zwar mal in der Kulturgeschichte eine wichtige Widerstandsfunktion gehabt: Es hat gegen die existentielle Angst geholfen, die dazu führt, in der Metaphysik sichere, aber allzu starre Antworten auf das why zu suchen, und es hat sich der Macht widersetzt, wenn diese durch metaphysische Diskurse versucht hat, die Menschen zu kontrollieren. Das objektivierende Wissensparadigma dient aber inzwischen meiner Meinung nach immer häufiger gerade der existentiellen Angst und der Macht: Es hält die Menschen fern von unbequemen Fragen und reduziert ihr Denken und Handeln auf reine Sachbearbeitung: Sie müssen Verfahren geschickt durchführen, und sie haben kaum Zeit mehr, um sich in die Tiefe der Dinge hineinzubegeben, dort wo man sich selbst und andere warum fragen hört, dort wo die Gesellschaft zur Zivilgesellschaft, d. h. zur Polis wird.
Ich habe also meine Not erklärt und komme schließlich zu meinem Widerstand. Ich will meinem Bedarf nach dem why-Atmen und meinem Bedürfnis nach einer humanistischen Einstellung weiterhin nachgehen, und ich suche und versuche dafür Plattformen: Ich habe einige davon, von denen ich hier nicht sprechen kann, denn ich habe die Länge dieses Textes bereits ausgeschöpft. Ich möchte aber zum Schluss erklären, warum das Literaturmagazin Beton International von Alida Bremer und Saša Ilić zu einer meiner Plattformen geworden ist – und die Leser*innen vom ausreißer dazu einladen, Beton International zu lesen, denn diese Zeitschrift atmet whys, die Aufmerksamkeit verdienen. Alida Bremer, eine weitere mir wichtige Stimme, hat eines der schicksalhaftesten Warum, nach denen man fragen kann, bereits in ihrer Einleitung zur Ausgabe von Beton International 2014 wie folgend formuliert:
Aber warum nicht hoffen [...], dass eine friedliche Welt möglich ist, dass zwischen Menschen, die zufällig aus verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften stammen, eine produktive Zusammenarbeit sowie Toleranz und gegenseitiger Respekt möglich sind – und dass die Allianz zwischen einheimischen und ausländischen Profiteuren entlarvt werden muss, damit es zu einer gerechteren Verteilung der Ressourcen, der Arbeit und der Gewinne kommt?
(Alida Bremer, Beton International, 1/1, 2014)
Diese Frage kann als eine optimistische rhetorische Frage gelesen werden, aber ich nehme sie als offen war – und frage mich, wieso die Menschen in ihren Bedürfnissen (in ihrer Not) immer so verdammt ambivalent sind. Und ich denke an Sophokles, die letzte Stimme, die meine Worte hier begleitet:
Ungeheuer ist viel. Doch nichts Ungeheuerer als der Mensch.
(Sophokles, Antigone, 442 v. Chr.)
Matteo Colombi