Skip to content. Skip to navigation
Verein zur Förderung von Medienvielfalt und freier Berichterstattung

ausreißer - die grazer wandzeitung

Sections
You are here: Home Ausgaben 92 | Jan/Feb 20 nullsummenspiel

ausgabe #92. erzählung. dominik leitner

nullsummenspiel


Der Korken braucht doch eine Sekunde länger als erwartet. Das Jahr ist nicht mehr komplett neu, als er sich endlich aus der schweren Sektflasche löst und über den Rand der Dachterrasse in die Tiefe hüpft. Wir scheißen auf Anstand und trinken die ersten Schlucke direkt aus der Flasche. Ein neues Jahr ist die Grundlage für ein neues Glück.

„Was bislang nicht gelungen ist, ist jetzt wieder möglich. Alles steht offen, alles ist wieder neu, alles auf Anfang“, sage ich etwas gedankenverloren und meine damit, dass es keinen Sinn macht, in der Hoffnungslosigkeit weiter zu waten. Jahresanfänge sind immer da, um etwas Verlängerung zu bekommen. Um die Träume noch nicht komplett abschreiben zu müssen, um die Einsamkeit noch nicht als Fakt ins Hirn einprägen zu müssen. „Dieses Mal schaffen wir alles.“

„Aber es ist doch nichts anders“, sagst du und ich möchte dir kein Gehör schenken, doch deine Worte klingen in mir trotzdem nach. Nein, nichts ist anders, da hast du natürlich recht, aber wir können uns doch zumindest vorstellen, dass es das ist.

„Die Fehler sind ja alle schon passiert“, sagst du und kratzt weiter an meiner Euphorie und ich denke an meine Fehler und wie sie mich hierher geführt haben. Wie oft schon habe ich alle dreihundertfünfundsechzig und hin und wieder auch dreihundertsechsundsechzig Tage lang versucht, sie zu verdrängen. Dank deiner Worte tauchen sie wieder an der Oberfläche auf, sie sind immer noch da, haben etwas Staub angesetzt, aber sie haben noch dieselbe Form und dasselbe Gewicht, kleben sich langsam an mich ran und versuchen mich schon jetzt ein kleines bisschen nach unten zu ziehen.

„Warum lässt du mir nicht meine Hoffnung?“, frage ich und du wirst mir sagen, dass alles hoffnungslos ist und ich einfach nur naiv. Aber das weiß ich doch, weiß es und mag mich vielleicht gerade deshalb ein wenig in solchen Nächten wie heute. Ein ganzes Jahr lang baut sich doch so vieles auf, der Druck, die Angst, das Misslingen des Lebens. Willst du da nicht auch einfach wie bei einem Taschenrechner auf C drücken, um wieder bei Null zu beginnen? Einfach auf C drücken, damit die Summe, die Produkte, die Differenzen und die Quotienten und all ihr Rest einfach verschwinden. Zumindest nicht mehr angezeigt werden, nicht mehr sichtbar sind. Selbst wenn sie im Zwischenspeicher immer noch ruhen und nie wirklich ganz verschwinden.

„Du wirst dich selbst enttäuschen“, sagst du und klingst so hart in deiner Wahrheit, dass ich noch einmal einen tiefen Schluck aus der Sektflasche nehme. Die Feuerwerke dauern jetzt schon seit Minuten an. Hunderttausende Euros explodieren am flachen Horizont der Großstadt mit bunten Effekten.

„Dafür ist doch der Rest des Jahres da“, sage ich und meine damit, dass die Ernüchterung ja sowieso kommen wird. Mit einunddreißig Jahren habe ich die Tücken der Realität bereits zur Genüge kennengelernt. Es werden auch in diesem Jahr wieder Freundschaften zerbrechen, Lieben nur einseitig sein, Worte nicht gesprochen werden und Vorsätze bereits morgen vergessen sein. Es ist jedes verdammte Jahr so, aber heute, aber gerade eben, in diesen ersten Momenten vom Jetzt ist doch alles noch möglich. Noch nichts ist kaputt.

Ich möchte eine Zigarette und das nur wenige Minuten, nachdem ich mit großer Dramatik Sekunden vor dem Drücken der C-Taste den Stummel der vorangegangenen, meiner vielleicht letzten Zigarette nach dem letzten Zug in dieselbe Richtung warf, in die auch der Korken verschwand. Ich hätte jetzt gerne eine Zigarette und wäre alleine hier, auf dieser Dachterrasse, auf dieser Aussichtsplattform. Um weiter herumspinnen zu können, was mir in diesem Jahr noch so alles gelingen wird. Ich würde ganz langsam rauchen, die Züge tief inhalieren und den Rauch zu viele Sekunden in meiner Lunge behalten, damit die Traumwelten noch Zeit haben, die Mauern der Luftschlösser fertig zu bauen. Ich würde alleine dasitzen und warten, bis meine Hoffnung sich endgültig erstarkt hat, damit das Leben mit der Realität schließlich beginnen kann. Und ich mit aller Kraft dagegen ankämpfe, in dreihundertsechsundsechzig Tagen nicht wieder verzweifelt auf das Drücken der C-Taste warten zu müssen, um endlich wieder bei Null anfangen zu können.

Sondern vielleicht endlich ein Ergebnis zu haben, das ich mit ins neue Jahr nehmen möchte.


Dominik Leitner

« November 2022 »
Su Mo Tu We Th Fr Sa
1 2 3 4 5
6 7 8 9 10 11 12
13 14 15 16 17 18 19
20 21 22 23 24 25 26
27 28 29 30
 

Powered by Plone, the Open Source Content Management System