ausgabe #78. prosa. barbara philipp
das problem mit der schönheit
oder: Der Sehnsuchtsort liegt in mir selbst
Der Berg Novalak spricht mich an. Er erzählt mir von der Schönheit seiner Bergketten und den vielen unentdeckten Tälern und Landstrichen. Niemand scheint auf diesem Berg zu wohnen. Ist er unwirtlich?
Ich habe nicht den Eindruck, im Gegenteil: jene Flächen, die mit weißer Flüssigkeit überzogen sind, laden mich zum Verweilen ein, sei es auch nur im Blick, der die Ferne nicht aufzuheben vermag. Dieser gleichmäßige, flüssige Schnee gräbt sich in alle Kerbungen und Vergabelungen und bahnt seinen Weg bis in die tiefsten Schluchten, die ich gerne erkunden würde.
Ich möchte diesen Bergrücken betreten, ihn spüren, seine Oberfläche berühren. Und im Traum, in dem ich einen Schritt auf ihn setze, bewegt sich der Boden unter mir und der Berg erwacht zu einem sich streckenden und reckenden Tier. Einem wunderschönen, eleganten Tier, das incognito unter den Höhenringen wohnt.
Plötzlich sitzt mir eine Frau gegenüber. Allerdings sehe ich weder ihr Gesicht noch ihre Silhouette. Eine scharfe Perspektive bleibt mir verwehrt, allein ihre Haut ist für mich sichtbar. Also folge ich der Marmorierung jener geheimnisvollen Oberfläche, die mich so in ihrem Bann hält. In jeder Vergabelung entdecke ich einen neuen Kosmos. Es ist wie ein Abtauchen in eine fantastische Welt, kein Stolperstein tut sich auf.
Plötzlich fühle ich mich weit weg von dem Schönheitsideal, das sich in meinem Hinterkopf durch tägliche Berieslung und Betäubungen kodierter Bilder und Nachrichten eingenistet hat.
Mount Novalak aus der Serie: Die Mutter, die Tochter und der Heilige Geist, 180 x 120 cm, Fotoarbeit der feministischen Künstlerin und Aktivistin Shira Richter
Trotz steter Weigerung sickern diese Bilder bis in die Grundquellen meines Seins durch und erodieren den Boden überschäumenden Lebenswillens.
Das Schönheitsideal fungiert als Korsett, das ich mir immer wieder allzu leichtfertig anpassen lasse. Das nicht meins ist. Mit dem ich nicht atmen kann, denn eingesperrt in dieser Enge wird das Atmen beschwerlich. Die Atemnot erkenne ich allerdings meist erst in allerletzter Minute, wenn ich nach Luft japse.
Meinen Körper bewohnend vergesse ich in schnellen Atemzügen, dass ich innerlich das Alter in seiner Schönheit kannte. Die Spuren bewunderte, die sich zeichnen. Warum habe ich diese Gewissheit für die Schönheit des Gelebten negiert? Sprechen wir in der Gesellschaft überhaupt noch darüber? Vor allem in Künstlerkreisen ist Alter, Familie und Kinderkriegen ein Tabuthema. Ewig währt der „Emerging artist“, am Ball bleiben heißt es und nicht an andere denken.
Was hat mich mundtot gemacht? Meine eigene Mutterschaft?
Alter und Mutterschaft ist ein nicht gern gesehenes Paar.
Die Empfindung des Leidens darf sich in der Kunst allerdings präsentieren. Doch die geschlechtliche Identifikation mit dem Leiden gleicht einer Mausefalle. Schnell schnappt sie zu, ohne Erbarmen.
Die Frau, die ich im Traum erkannte, zeigt sich nochmals, bevor sie verschwindet. Das Bild des Mount Novalak der Künstlerin und Aktivistin Shira Richter bleibt.
Mount Novalak ist der Körper einer Frau, die Mutter wurde. Der Körper als sichtbares Volumen zur Außenwelt tritt bei Shira Richters Arbeit haptisch und humorvoll in Erscheinung. Darf sie das? Ja. Hautverdünnung, Risse im Gewebe, Krampfadern, Schnitte. Das sehe ich kaum in dieser Leichtigkeit abgebildet. Nirgendwo. Außer am Berg Novalak. Und den anderen Bildern der Fotoserie Shira Richters.
Und was hat mich tatsächlich als Mutter erwartet?
Ich bin noch immer überzeugte Feministin und Künstlerin, mit Kindern.
Und Shira Richters Arbeit zeigt mir, dass ich mich ohne Körper nirgendwohin hintragen, nirgendwo als Künstlerin, Frau, Feministin und Mutter gesehen werden kann. Dass diese Positionierung wichtig ist. Weil wir viele sind, uns nur nicht kennen.
Barbara Philipp