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You are here: Home Ausgaben 78 | Sept/Okt 17 red line. radio-aktive avantgarde

ausgabe #78. interview. evelyn schalk

red line. radio-aktive avantgarde

Medienmenschen im Gespräch: Wer macht die Story hinter der Schlagzeile?


Einst waren sie PiratInnen. Heute tummeln sie sich als freie SeglerInnen auf den hart umkämpften Rundfunkwellen, die den großen Tankern schon mal unbequem in die Quere kommen. Dabei kann jede/r, die/der etwas zu sagen hat, mit ihnen in See stechen oder besser: in die Luft gehen, „on air“ nämlich – also auf Sendung. Helga Schwarzwald hat das schon sehr früh getan, heute steht sie als Geschäftsführerin des Verband Freier Radios Österreich quasi am Steuerrad der nicht-kommerziellen Rundfunkflotte. Die Juristin, Kommunikations- und Medienexpertin im Interview mit Evelyn Schalk über erlernten Sexismus, fehlende Ethikcodes, die Bedeutung von „safe spaces“, das erschreckende Ausmaß an Unwissenheit und Ignoranz, Sprechen wie einem der Schnabel gewachsen ist und ihr Vertrauen auf das eigene Sensorium.

Die Freien Radios sind aus der österreichischen Rundfunklandschaft längst nicht mehr wegzudenken, vielmehr sind sie eine demokratische Instanz. Als nicht-kommerzieller Privatrundfunk stehen sie für Werbefreiheit, Präsenz für jene und von jenen, die in kommerziellen Medien nicht zu Wort kommen, unmittelbare Verankerung vor Ort und gleichzeitig hohe internationale Vernetzung. All das zeichnet sie ebenso aus, wie ihre publizistische Haltung und Vielstimmigkeit in Zeiten immer massiverer Medienkonzentration. Insgesamt 14 Freie Radiosender sind in Österreich über alle Bundesländer verteilt. Dass die einstigen PiratInnenradios, deren Geschichte schon in der Ersten Republik mit dem sozialdemokratischen Freien Radiobund begann, heute legal senden können und ihre Finanzierung  durch den Fonds zur Förderung des nichtkommerziellen Rundfunks weitgehend gesichert ist, verdankt sich vor allem der Hartnäckigkeit und Ausdauer zahlreicher radiobegeisterter, gesellschafts- und medienpolitisch weitblickender AktivistInnen und JournalistInnen. Graz spielte dabei übrigens eine PionierInnenrolle: „Die ersten Radiopirat_innen der 2. Republik waren die Macher_innen von Ö-Frei, die ab Dezember 1979 mit vier Sendungen in Graz on Air gingen.“ (1) Heute sendet Radio Helsinki aus der steirischen Landeshauptstadt. Demokratie braucht Teilhabe, diese Grundüberzeugung haben alle Stationen gemeinsam. Was passiert, wenn diese Teilhabe und mediale Repräsentanz fehlt, zeigt sich gerade aktuell weltweit. Die Förderung nichtkommerzieller Medien, egal ob Rundfunk, Print oder Online, stellt ein probates demokratiepolitisches Mittel dar, dieses gesellschaftliche Potential zu erkennen und zu stärken. (2) Für Helga Schwarzwald hat sich die Notwendigkeit von Offenheit und Repräsentanz im Laufe ihrer vielfältigen Tätigkeiten immer wieder bestätigt, bis heute und täglich intensiver.

ausreißer: Du hast als Juristin zunächst im Bereich Frauenberatung gearbeitet, heute stehst du dem Verband Freier Radios Österreich als Geschäftsführerin vor. Das sieht auf den ersten Blick nach einem ziemlich radikalen Wechsel des Tätigkeitsfeldes aus – wie kam‘s?
Helga Schwarzwald: Ins Berufsleben eingestiegen bin ich mit der Intention, Anwältin zu werden. Ich habe aber recht bald gemerkt, dass die Berufsrealität nicht mit meinem idealisierten Bild von dieser Tätigkeit zusammenging. Der Aufbau einer feministischen Frauenberatungsstelle war also quasi das Ideal in neuem Gewand, um eine politische Utopie zu realisieren. In Salzburg, wo ich studiert und gearbeitet habe, begann sich jedoch Anfang der 1990er Jahre der politische Zugang im Sozialbereich auszudünnen, gleichzeitig war es eine enorm schwierige Aufgabe: Du bist Tag für Tag unmittelbar mit Armut, Gewalt gegen Frauen und Kinder, ungerechten Arbeitsmarktsituationen und existentiellen Bedrohungen konfrontiert. Gleichzeitig wurde auch nach zwanzig Jahren Institutionalisierung auf politischer und Organisationsebene das Fachwissen immer geringer. Ich hab für mich den Schluss daraus gezogen, das Feld zu wechseln, um mit meinem politischen Engagement im Kunst- und Kulturbereich (hoffentlich) mehr bewegen zu können. Durch meine Entscheidung mit Frauen zu leben, wurde außerdem das konservative Salzburg für mich – wie für viele andere – zum feindseligen Pflaster; es war Zeit für einen Ortswechsel.
Im selben Jahr hat unter Löschnak [Anm.: Franz Löschnak, 1989-95 SPÖ-Innenminister] die Verschärfung des Fremdenrechts begonnen, mittlerweile haben wir x solcher Verschärfungen erlebt, mit allen bekannten Folgen. Davon waren und sind auch Frauen massiv betroffen. Weitere Maßnahmen, wie z.B. die Herabsetzung der Volljährigkeit, gingen zulasten der ohnehin Benachteiligten. Jugendliche in betreuten Wohneinrichtungen etwa fielen dadurch früher aus diesen Programmen raus. Alles in allem hat die Entwicklung, nach unten hin die Bedingungen zu verschlechtern und die Ressourcen nach oben umzuverteilen da so richtig eingesetzt – und leider bis heute nicht ihren Abschluss gefunden.

War der Einstieg bei den Freie Radios, wo u.a. das Genderbewusstsein ja grundsätzlich ziemlich ausgeprägt ist, für dich demnach auch eine Möglichkeit, dem Fehlen eines solchen in Mainstreammedien und den erwähnten Entwicklungen allgemein etwas entgegen zu setzen?
Ich konsumiere Mainstreammedien sehr selektiv. Und 50 % Frauenanteil in der Bevölkerung bedeutet nicht automatisch 50 % Interesse für feministische Themen. Die dafür nötige kritische, meist sperrige Analyse ist oft schwer vermittelbar. Die Position bei Radio Orange [Anm.: Helga Schwarzwald war bereits von 2004 bis 2011 als Geschäftsführerin des Wiener Senders aktiv] hab ich wohl bekommen, weil ich glaubwürdig und überzeugend Erfahrung in Leitungsaufgaben vermitteln konnte, aber auch weil mir die breite Beteiligung von Menschen wichtig ist. In dem Job geht es um die Vereinbarkeit unterschiedlicher Positionen, und es ist manchmal nötig Entscheidungen zu treffen, die bei einem Teil der Betroffenen unpopulär sind. Außerdem befand sich der Sender sozusagen noch in der Projektphase, da gab es auch jede Menge Organisationsfragen zu lösen. Das wiederum hat viel mit Zutrauen zu tun. Außerdem: Ich bin ein Radiomensch. Ich bin in einem radiophilen Haushalt aufgewachsen, ich liebe das Radio von klein auf! Und nach 15 Jahren in dem Bereich hat man dann auch Expertise in Sachen Medien.

Laut der alle zwei Jahre erscheinenden Studie des Global Media Monitoring Project (3) ist die fehlende Präsenz von Frauen sowohl in Österreich und Deutschland als auch weltweit noch immer eklatant – und zwar sowohl inhaltlich als auch strukturell. Darin heißt es unter anderem: „Mit durchschnittlich 28 % liegt die Präsenz von Frauen in deutschen Nachrichten weit unter den 50 %, die ihnen als Hälfte der Bevölkerung zukommen müßten.“ Freie Radios hingegen setzen bewusst auf feministische Inhalte und haben auch den Anspruch der Diversität im internen System. Siehst du darin eine wirksame Strategie, die Verhältnisse generell zu verändern, zu unterlaufen bzw. eine (um den aus der Mode gekommenen Begriff zu verwenden) Gegenöffentlichkeit herzustellen – kurzum, gibt es ein Richtiges im Falschen und wenn ja, was bewirkt es?
Es wurde auf verschiedenen Ebenen sehr viel investiert. In Freien Radios laufen zahlreiche queerfeministische Sendungen bzw. Sendungen unter Einbeziehung frauenspezifischer Aspekte, das gibt es sonst nirgends. Insofern sind sie eine echte Avantgarde! Immer alles perfekt zu lösen geht aber auch nicht, gerade bei Beteiligung, Geschlechterverhältnissen usw. Wir sind nicht von den Folgen der Mainstreamgesellschaft verschont. Auch ich denke, etwa bei der Auswahl der Gäste für Veranstaltung oder Sendungen, nicht automatisch an „qualifizierte Frauen“, sondern „wer ist qualifiziert?“ Da tauchen manchmal Männer schneller im Bewusstsein auf, gerade wenn es um bestimmte Themenfelder geht, Technik ist ein Klassiker, oder aktuell in der Urheberrechtsdebatte.

… weil ihnen von vornherein mehr Raum zugestanden wird bzw. sie ihn sich nehmen und dadurch präsenter werden und bleiben...?
Es braucht immer wieder Neuanfänge. Bestimmte Themen kommen immer wieder an die Oberfläche. Der Austausch darüber ist wichtig, Treffen von Frauenforen, queeren Redaktionen, über die Grenzen hinweg, mit ganz unterschiedlichen Frauen. Erst kürzlich habe ich in einem solchen Rahmen Frauen aus Saudi-Arabien und dem Irak kennengelernt, die hatten tolle Perspektiven. So diskutiert man altbekannte Zugänge, lernt aber auch ganz neue kennen. Das ist eine große Bereicherung. Wichtig, auch und gerade für Freie Radios, ist: Wie für jüngere Generationen attraktiv, glaubwürdig bleiben? Neuen feministischen Initiativen Platz bieten. Organisationen kommunizieren ja oft sehr subtil, dass Menschen nicht am richtigen Ort sind.

Du meinst, nach außen hin wird Offenheit, Gleichstellung, Nichtdiskriminierung etc. behauptet und hinter den Kulissen lässt man die betreffenden Menschen dann spüren, dass sie eigentlich unerwünscht sind?
Ja. Manchmal muss man an Punkte zurückgehen, an denen man schon mal war. Vielleicht weg vom Fokus Frau, aber 50 % der Menschen werden nun mal nach wie vor ziemlich ungerecht behandelt. Intersektionalität [Anm.: der Zusammenhang sozialer Ungerechtigkeit mit Rassismus und Sexismus (4)] wurde und wird vorwiegend von Feministinnen thematisiert, und es ist ein extrem konfliktreiches Feld.

Tatsächlich ist diese Perspektive aber für die gesamte Gesellschaft entscheidend, wie sich aktuell besonders vehement zeigt...
Es braucht mehr Vernetzung entlang von Diskriminierungslinien, egal ob Technologiekritik und Beschäftigung, HackerInnenkongresse und Nerds – es bedarf der Aneignung durch Frauen von was auch immer nachkommt.
Zentral für Freie Radios ist: ausstrahlen und einlösen. Das Gefühl rüberbringen, ihr seid bei uns ok und sicher! Safe spaces zu bieten ist uns ein großes Anliegen! Ich weiß aus eigener Erfahrung, es ist eine Gefühlssache, die funktioniert zehn Meter gegen den Wind. Als Frau und Lesbe entwickelt man ein eigenes Sensorium dafür, zu spüren, das ist ein guter Platz für mich oder nicht. Und umgekehrt ist sofort klar, wenn wo nur so getan wird, die Betreffenden aber tatsächlich keine Ahnung haben, worum es geht. Das merken alle. Insofern braucht es genau das, wirklich offen bleiben, nicht bloß als Lippenbekenntnis. Dann ist schon viel erreicht!

Es ist schon Wahnsinn, dass so etwas im 21. Jahrhundert noch immer extra betont werden muss, noch immer keine Selbstverständlichkeit geworden ist, im Gegenteil...
Ich bin immer wieder betroffen und bestürzt, wie alltäglich Rassismus ist – und fast ratlos über das Ausmaß, in dem unsere Gesellschaft unwissend und ignorant ist. Safe spaces sind für Betroffene gar nie existent gewesen oder wurden sehr schnell wieder über Bord geworfen. Da gibt es keine Offenheit für Kritik, keine Bildung bei solchen Themen, es fehlt der öffentliche Diskurs ganz grundlegend – und genau da können und müssen Freie Radios ansetzen!
Das heißt auch, sich konfrontieren, wenn Leute kritische Rückmeldungen haben, auf die eigene Fortbildung achten. Freie Radios und Community TV (der Begriff „Freie Medien“ wird ja momentan von allen verwendet, wie man‘s grade braucht, siehe FPÖ & Co) sind offen zugänglich – das muss man kommunizieren! Es geht darum, welche Menschen sind in unseren Medien, wie selbstbestimmt und selbstrepräsentiert. Für den ORF müsste das bedeuten, Redaktionen zu verändern, durchlässiger zu werden und auch Sprachnormen zu durchbrechen, schlicht Platz einzuräumen. Das ist relativ einfach möglich. ModeratorInnen mit verschiedenen Sprachen z.B., gerade bei Querschnittthematiken. Und: Zugang zu allen Positionen, nicht nur ein Eckerl freiräumen, in das man Vielfalt steckt...

... du meinst wie in „Heimat, fremde Heimat“, gewissermaßen als Spielwiese, wo‘s niemanden stört...
Genau! Das ist schon heftig. Volksgruppen haben zudem ein verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht auf Repräsentation. Das wird in Freien Radios überproportional erfüllt.

Da geht es doch auch um soziale Durchlässigkeit. Immer noch kommen JournalistInnen, erst recht in höheren Positionen, fast ausschließlich aus den oberen Schichten (5), entsprechend gestalten sich Themenwahl und -perspektiven.
In Österreich ist es ja besonders schwer, die soziale Schicht zu verlassen, es wird noch früher selektiert und noch rigider. Daher braucht es die Möglichkeit, sich mit der eigenen Sprache medial selbst zu repräsentieren. Es macht einen Unterschied, wenn man reden kann, wie einem der Schnabel gewachsen ist, egal ob mit Dialekt, Akzent, oder sonstigen Färbungen. Im Gegensatz dazu steht die Anpassungsleistung an diverse soziale Kontexte, die wir dauernd erbringen sollen. Das sind soziale Ausschlusskriterien.

Treffen solche sprachlichen Ausschlusskriterien Frauen deiner Meinung nach stärker als Männer?
Es gibt hinsichtlich sozialer Grundbedürfnisse enorme geschlechterspezifische Unterschiede, am Arbeitsmarkt etwa oder bei Obdachlosigkeit. Da sind Frauen noch mal anders und härter betroffen.
Die Akademie der Wissenschaften hat außerdem gerade erhoben, dass bei wahlwerbenden Parteien die Redezeiten von männlichen Funktionären doppelt so lang sind wie die von weiblichen. (6) Dabei sind das Funktionärinnen, die die gläserne Decke schon durchstoßen haben, schon zu den Interviewten zählen! Und dennoch so eine Diskrepanz! Wenn zu dieser Unterdrückung noch eine soziale dazu kommt, ist die demokratische Wahrscheinlichkeit gering, dass es die Betreffende je auch nur annähernd soweit schafft bzw. irgendwie gehört wird. Und bei feministischen Positionen in Diskussionen schwindet die Redezeit noch mehr.

Wie könnte man dem entgegen wirken?
Es bräuchte Schulungen in positiver Diskriminierung auf Seiten der ModeratorInnen, um solche Muster in Gesprächen zu durchbrechen. Bei Radio Orange fragten wir uns regelmäßig, wie kann man sprachliche Stereotypisierungen des Mainstreamblicks auf Frauen vermeiden? Wie kann man damit umgehen? Denn man lernt diesen Sexismus, diese Ausgrenzung von anderen Positionen. Bis heute gibt es außerdem keinen Ethikcode (7) für österreichische Medien (wie z.B. in Spanien), der regelt, wie mit Gewaltverbrechen sprachlich umzugehen ist. Immer noch ist da die Rede von „Beziehungstat“, „Verbrechen aus Liebe“ usw.

Waren wir da nicht schon mal weiter, erleben wir gerade den vielzitierten Backlash?
Man darf das Patriarchat nicht unterschätzen! Wir haben in 30 Jahren an den Jahrhunderten darunter grade mal gekratzt! Sobald man nicht dagegen hält, dreht sich das Rad wieder zurück. Da passiert auch viel unter dem Bewusstseinslevel. Wir müssen dranbleiben!                       



(1)  http://www.freie-radios.at/entwicklung.html
(2)  siehe dazu in den ausreißer-Ausgaben #62 und #74,
sowie http://igkultur.at/artikel/pressefoerderung-alternativ
und https://mediana.at/forderungen-medienfoerderung/
(3)  http://whomakesthenews.org/gmmp/gmmp-reports/gmmp-2015-reports
(4)  Vgl. z.B.: http://genderplanet.univie.ac.at/begriffsuniversum/intersektionalitaet
(5)  Vgl. u.a. Kathrin Hartmann: Wir müssen leider draußen bleiben. München, 2012, S. 201 ff. und: Marco Maurer:
https://www.dubleibstwasdubist.de
(6)  http://derstandard.at/2000063683733/Studie-Frauen-in-TV-Nachrichten-unterrepraesentiert
(7)  Vgl. u.a.: http://www.revistalatinacs.org/11/art/940_Elche/19_EstebanEN.html


Helga Schwarzwald: „Freie Radios, das bedeutet: Jede/r, die/der was zu sagen hat, kann mitmachen! Freie Radios sind keine geschlossenen Systeme und kein fertiges Projekt. Medienzugang ist ansonsten eine ziemlich abgeriegelte Sache, hier kann man selbst Teil werden!“

Verband Freier Radios Österreich:
http://www.freie-radios.at
Radio Helsinki (Graz): https://helsinki.at

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