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You are here: Home Ausgaben 79 | Nov/Dez 17 liebe in zeiten von hartz IV. Drama in fünf Akten der Verzweiflung

ausgabe #79. drama. ulrich stolte

liebe in zeiten von hartz IV

Drama in fünf Akten der Verzweiflung


Auszug
[Frisch aus der Feder – Drama sucht Bühne!]


Erster Akt, Szene 3

Silvia: Mit meinem Lächeln habe ich schon von meinem Vater alles bekommen, was ich wollte. Aber nicht jeder kann alles bekommen.


Silvia: Ich glaube, Sie sind nicht der Richtige für uns.

Thomas Morell hält sich an der Tischplatte fest. Silvia Safranski blickt auf die Spitzen ihrer garantiert ohne Kinderarbeit hergestellten Arche-Schuhe, neben ihr Luzifer und Dieter Porsche. Luzifer hält die Schreibtischlampe in der Hand, Dieter Porsche hält die offene Hand hin.

Thomas: So hört es sich also an, wenn das Todesurteil verlesen wird. Seit sechs Monaten bin ich arbeitslos. Habe Arbeit gesucht auf Teufel komm raus, aber wenn Du Ende Vierzig bist, hast, hast du keine Chance.


Thomas: Das können Sie doch so nicht sagen, Frau Safranski. Ich will Fuß fassen in Ihrer Branche.

Silvia: Nein, Herr Morell. Sie müssen sich mit unserem Unternehmen schon genau auseinander setzen.

Thomas: Wie sie das sagt, „unser Unternehmen“. Sie glaubt in diesem Moment wirklich, ihr gehöre das Unternehmen, und sie müsse alles in ihrer Macht stehende tun, um es vor den ungebildeten Bewerbern da draußen zu bewahren. Die nur darauf warten, einzubrechen, um mit neuen Ideen und unkontrollierter Beschäftigung die Kultur ihres Unternehmens zu vernichten.


Thomas: Bestimmt erfüllte ich die Voraussetzung, ich bin flexibel und belastbar und kontaktfreudig und entscheidungsfreudig.

Thomas: Softskills, bring die Softskills aus dem Bewerbungstraining!


Silvia Safranski: Flexibel? Also geben Sie zu, Sie haben diesen Job noch nie gemacht.

Thomas: Nicht direkt, aber ich kann mich schnell einarbeiten – und ich hab vor, eine Menge bei Ihnen zu lernen, und –

Silvia Safranski: Gut, das glauben wir Ihnen ja, dass Sie guten Willens sind, aber das ist nicht einfach nur ein Job. Sie haben es da mit Menschen zu tun...

Thomas: Ich hatte in meiner früheren Tätigkeit ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu den Kunden.

Silvia Safranski: Und jetzt glauben Sie, wenn Sie zu unserer kleinen Klepperlesfirma kommen, da reicht ihr Knowhow aus der großen Versicherung dreimal. Hören Sie, wir arbeiten sehr sorgfältig, wir sind Jahre an einem Projekt, für das andere zwei Stunden brauchen.

Thomas: Meine Zeugnisse weisen doch aus, dass ich fachlich dazu in der Lage bin.

Silvia Safranski: Na hören Sie mal, unser Unternehmen liegt hart am Markt, da brauch‘ ich keinen Theoretiker.
 
Thomas: Ich dachte...

Silvia Safranski: Verstehe, Sie dachten, da guck ich mal eben auf die Homepage und da besorg ich mir eben mal 'nen Katalog von Mast Edelgase, und dann hab ich mich genug mit unserem Unternehmen auseinander gesetzt. Wenn Sie noch am Anfang ihrer Bewerbungen stehen, dann möchte ich Ihnen doch mit auf den Weg geben, auch mal den Mut zu haben, sich in anderen Bereichen umzutun.

Silvia Safranski (nimmt die Bewerbung): Ich will das jetzt nicht vertiefen. Dass ihr Bewerbungsbild nur mit einem Open-Source-Programm optimiert ist, das kann einem konservativeren Personaler als mir schon unangenehm auffallen. (Sie wirft ihm die dicke Bewerbungsunterlage vor)

Und Ihr Lebenslauf – Armleuchter könnten Sie mal leuchten? – Sehen Sie, der hat grobe Lücken. Hier, gleich vorne: Am 12. Juli 1973 zwischen 11.30 Uhr und 11.32 Uhr. Wo waren sie da?

Thomas (blättert hektisch in den Unterlagen):
Hier. . . Ich hab es gleich!

Silvia Safranski (nutzt die Pause und zückt eine Zigarette, sie zündet sie am Leuchter vom Armleuchter an. Mit zärtlicher Stimme): Herr Porsche!

(Dieter Porsche beugt sich dienstbeflissen vor und bietet ihr seine Hand an. Sie streift ab und schenkte ihm ein glückliches Lächeln)

Thomas: Ich glaub, ich war eine rauchen.

Silvia Safranski (zieht an der Zigarette): Und das während der Arbeitszeit. Na wissen Sie. Klar, wir haben alle unsere Geschichten.

Silvia Safranski: Wird langsam an der Zeit, den Mann loszuwerden.


Silvia Safranski: Verstehen Sie, Herr Morell, wenn es nur so ein Job wäre, wie der Armleuchter hier einen hat, so ein unbezahltes Praktikum von der New Economy Market Share Holder Division Career Chance Organisation, formerly called: Arbeitsamt. Aber Sie haben sich um einen Ein-Euro-Job beworben.

Morell: Das ist mir wohl bewusst.

Silvia Safranski: Einen ganzen Euro pro Stunde. Ich meine, das ist richtig Geld. Wir müssen da strenge Auslese treffen. Klar, in den guten alten Zeiten, als der Staat noch richtig Geld hatte, war das anders. Wenn wir eine Baustelle hatten, konnten wir noch Leute einstellen, die davor standen und die Arme ausgestreckt hielten als Absperrband.

(Morell sitzt da und wirft ein erstarrtes freundliches Lächeln in die Gegend)

Silvia Safranski: Er sieht aus wie ein Hamster, rührt mich das? Na ja, solange ich rede, kann er wenigstens im Warmen sitzen.


Silvia Safranski: Oder etwa nicht?

Thomas: Doch, mir macht das Arbeiten total Spaß, ich will ja arbeiten!

Silvia Safranski: Mit Spaß ist es da alleine nicht getan. Es ist ein wirklich wichtiger Job. Sie wissen sicherlich schon, dass die Drehtür vom Verkaufsraum kaputt ist. Immer, wenn jemand kommt, dann kurbeln Sie die Drehtür. Überlegen Sie mal, wenn sich da einer einklemmt. Dass Sie sich das zutrauen, das glaube ich ihnen wohl, aber das ist eine große Verantwortung. Die Tür muss immer in die richtige Richtung gedreht werden. Rechtsrum glaube ich. Deswegen haben wir auch einen Ein-Euro-Job draus gemacht.

Silvia Safranski: Okay, Herr Hamster, Du hattest Deine Chance, aber jetzt ist Mittagspause.


Silvia Safranski: Also nichts für ungut. Ich wünsche Ihnen auf ihrem weiteren Leidensweg viel Erfolg (zu Dieter Porsche). Herr Porsche!

Porsche: Bitte, ich komme. (Sie hängt sich an seinen Arm, und er entführt sie sachte ins Land der Mittagspausen).

(Thomas ist gelähmt und entsetzt. Der Armleuchter beugt sich freundlich zu ihm und tut, was ein Armleuchter in solchen Minuten eben tun kann. Er hält ihm ein Feuerzeug hin.)

Luzifer: Brauchst du Feuer?

***

Zweiter Akt, Szene 1:

Im Arbeitsamt, Büro von Dorothea Penke, Sachbearbeiterin.


Penke: Guten Morgen, Herr Morell. (zu Luzifer mit abschätzigem Blick) Schön, dass Sie Ihren persönlichen Trainer mitgebracht haben. (Zu Morell) Wie geht es?

Thomas: Bin so niedergeschlagen.

Penke: Leben Sie ihren Traum.

Thomas: Tue ich ja. Was kann ich dafür, dass ich nur Alpträume habe.

Penke: Sie müssen in den Spiegel sehen und sich sagen, „ich liebe mich, ich liebe mich und mein Werk. Ich bin ein besonderer, ein wertvoller Mensch. Ich bin es mir wert, dass ich achtsam bin um mich. Sagen Sie einfach: „Du musst dein Werk mehr lieben! Denn Du bist wertvoll.“
 
(In der Tat, Dorothea Penke ist wertvoll. Aber Thomas Morell nicht. Also macht sie ihn fertig.)

Penke: Was haben Sie im letzten halben Jahr geleistet?

Thomas (zu Luzifer): Ich habe mich auf meine Tochter gefreut, ich habe einen Regenbogen gesehen, ich habe der Sprache des Windes gelauscht, die ich meine Tochter lehren will, ich habe eine Rose gepflückt, … (Luzifer patscht sich auf die Stirn).

Luzifer (zu Dorothea Penke): Er hat sich beworben.

Penke: Eingeladen worden?

Thomas: Einmal.

Penke: Und?

Thomas: Nichts!

Penke: War ja klar. Wie geht es weiter?

Thomas: Weiß nicht.

Luzifer: Nach einer kurzen Orientierungsphase werden wir mit einer leichten Veränderung unseres Profils den Bewerbungsprozess optimal auf die erforderlichen Anforderungen anpassen.

Penke: Fehlzeiten?

Thomas: War im Krankenhaus mit meiner Frau.

Penke: Warum haben Sie die Fehlzeit nicht angemeldet?

Thomas: Weil ich niemandem fehle. Warum soll ich Fehlzeiten melden, wenn ich sowieso arbeitslos bin?

Penke: Weil sie jederzeit verfügbar sein müssen!

Thomas: Verfügbar für das Nichtstun?

Penke: Da müssen wir Ihnen leider die Bezüge kürzen.

Thomas: Aber ich werde bald Vater sein.

Penke: Das ist schön für Sie. Gratuliere. Wir haben aber mehrere Möglichkeiten, Sie aus der Statistik zu bringen. Sie können die Arbeitslosenzahl senken, indem Sie beispielsweise eine Firma gründen, wir können Ihnen dann die ersten Monate bis zur Firmengründung ein Überbrückungsgeld geben.

Thomas: Oder?

Penke: Die Ich-AG! Sie werden ganz einfach ohne technische und betriebswirtschaftliche Ausbildung und finanzielle oder materielle Ausstattung reich, indem Sie eine Firma gründen. Sie machen eine Ich-AG!

(Sie stehen, gucken sich in die Augen, wie beim Western-Showdown)

Thomas: Ohne Kohle und Knowhow?

Penke. Ich-AG, AG!!
 
Thomas. Du Ga-Ga????

(Jetzt Stirn an Stirn)

Penke: AG-AG

Thomas: GA-GA

(Luzifer räuspert sich. Sie setzen sich wieder.)

Penke: Haben Sie eine Geschäftsidee?

Thomas: Ich könnte schalldichte Katzenbunker erfinden, damit die armen Tiere nicht mehr so unter Silvesterböllern leiden. ich könnte eine Fahrradkette ohne Schmiere erfinden, damit müssen sich nicht mal mehr Grüne die Hände schmutzig machen, ich könnte Drohnen erfinden, die funktionieren, sogar bei der Bundeswehr.

Penke: Wir brauchen Altenpfleger. Am besten scheinselbstständige Altenpfleger, damit wir ihnen keinen anständigen Lohn zu zahlen brauchen. Ich-AGs eben. Haben Sie einen Businessplan?

Luzifer (cool): Wir streben einen ergebnisoffenen Prozess an, der transparent, sachlich und dialogorientiert ist, sowie Ergebnis und lösungsorientiert. Wir halten die Balance zwischen unterschiedlichen Interessen und dem Gemeinwohl. Wir würdigen die Ergebnisse und berücksichtigen sie bei Planungen und Entscheidungen. Wir sind flexibel und anpassungsfähig, ressourcenorientiert. Und vor allem, wir haben eine frühzeitige und kontinuierliche Information.

Thomas: Halleluja. 

Ulrich Stolte


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