ausgabe #79. prosa. joachim hainzl
sorry, der schluss ist nicht das beste vom text …
In den letzten Jahren habe ich bei der Indexierung meiner rund 48.000 Stücke umfassenden Sammlung von Zigarettenschachteln und -dosen einen Zahn zugelegt. Denn sollte ich einmal nicht mehr sein, dann möchte ich nicht, dass meine Sammlung filetiert wird und sich in alle Winde zerstreut. Irgendetwas von mir, in das ich viel Lebenszeit und -energie gesteckt habe, sollte mich schon eine Zeitlang überleben. Warum diese erhöhte Aufmerksamkeit auf das Danach? Zum einen, da sich mein Bild von mir geändert hat. Ich kann mich erinnern, wie ich als Kind immer der Zukunft entgegen gehofft hatte, war sie doch verbunden mit erweiterten Möglichkeiten oder Rechten. Etwa, dass man endlich offiziell Radfahren oder ein Motorrad, ein Auto lenken darf. Und dann, die Studienzeit in den 20ern meines Lebens. Eine Phase, in der ich das Gefühl hatte, dass es genug Zeit gäbe um vieles einfach mal auszuprobieren, wie etwa Studienfächer, Urlaubsländer, Wohnformen, Musikgeschmäcker und auch Beziehungen. Beziehungsabbrüche erlaubte ich mir schneller, denn es schien ja genug Möglichkeiten zu geben, dass die Beste, die Perfekte noch kommen wird. Der Tod, er war bis dahin nur selten zu Gast in meinem Umfeld. Zu klein war ich beim Tod meiner Urgroßeltern, an den mich hauptsächlich der Begräbnisschmaus mit Leberknödelsuppe erinnert. Ein Onkel starb viel zu früh an Gehirntumor, ebenso die Frau eines Verwandten und das Paar aus einer der anderen StudentInnen-WG, das beim Duschen eine Rauchgasvergiftung nicht überlebte. Es schienen Ausreißer zu sein in einem Alltag, bei dem es die Sicherheit gab, dass das Beste, ein Mehr an Möglichkeiten und Ressourcen, noch vor einem, vor mir lag. Und so ging es eine Zeitlang dahin, mit Aufs und Abs, aber doch einem gewissen Zukunftsoptimismus. Und dann, in den 40ern, dann beginnt man zu zählen, nicht nur die noch statistisch verbleibende durchschnittliche Lebenszeit (wobei das was bleibt plötzlich kleiner ist, als die schon erlebte), man fängt Kalorien zu zählen an, man rechnet die Jahre bis zur möglichen Pension und ob das, was da auf dem Pensionskonto steht, dann wohl zum Leben reichen könnte. Sicherheiten im Privaten und Beruflichen schwinden, die Zeit des Schneemannbauens mit den Kindern wird abgelöst von Machtspielchen mit pubertierenden Teenagern. Und das Beste kommt also noch? Was denn? Bierbauch, Mindestpension und Glatze? Dann, scheinbar aus dem Nichts, erfährst du von Freundinnen und Freunden, alle so in deinem Alter, dass sie Krankheiten haben, die du immer einer anderen Generation zugerechnet hattest. Und du nimmst es nicht ernst, dass ihnen Lebensbedrohliches zustoßen könnte. Dann, in nur wenigen Jahren, immer mehr, von denen du dich verabschieden musst und wo die Zeremonie der „Verabschiedung“ dir erst zeigt, dass da keine Zeit zum Verabschieden blieb. Der Schock sitzt tief. Nicht nur über den Tod geliebter Freunde und Freundinnen, sondern auch darüber, dass es dann ja theoretisch (und wohl auch praktisch) einen selber treffen könnte. Das Beste kommt also noch? Zweifel kommen auf, verstärkt von der Warnung der Verwandten, die einem zu Vorsorgeuntersuchungen raten, da der Großvater ja an dem und dem starb und möglicherweise Risiken hier und dort bestünden. Ich ertappe mich dabei, dass ich in den Zeitungen die Todesanzeigen nicht mehr automatisch überblättere, sondern nach bekannten Namen suche und nach den Altersangaben der Verstorbenen. Und die guten Vorsätze nehmen zu: den Tag mehr zu genießen, sich gesünder zu ernähren, mehr Sport zu betreiben, noch die und die Länder zu besuchen, die alten Freunde und Freundinnen öfter zu treffen und sich mehr Zeit zu nehmen. Das Leben ähnelt irgendwie vermehrt einer noch abzuhakenden To-Do-Liste und weg ist dieses Gefühl, dass da noch ewig viel Zeit bliebe.
Nicht nur bei einem selbst klafft zwischen dem persönlich gefühlten und dem offiziellen Alter eine immer größere Schere. Auch die Eltern und Großeltern sind „plötzlich“ viel älter geworden. Die geliebte Großmutter, die vor wenigen Jahren verstarb, sie wurde zumindest über 90 Jahre alt. Aber waren ihre letzten Jahre wirklich das Beste? Die Besuche bei ihr am Land und ihre verwirrten Momente verwirrten auch mich. Da saß jemand, den ich nicht kannte, die mich zwar noch erkannte, aber unsere gemeinsame Geschichte vergessen hatte. Und das schmerzte.
Es verändern sich auch die Gesprächsthemen und Wissensbereiche. Etwa das plötzlich in den Alltag einsickernde Know-How um die Pflegestufen und ihre Einteilung. Dazu die Besuche bei den „Pflegebedürftigen“ und das Beobachten, wie die Kommunikation so läuft. Zwischen ihnen und den Pflegenden. Immer wieder diese verbale Entmündigung, diese Verkindlichung eines Erwachsenen und diese verbalisierte Machtungleichheit mit Geboten und Befehlen, Tätscheleien und anderen professionalisierten Emotionen. Das soll man sich wünschen für einen selbst, das ist der „Lebensabend“, den einem Kreuzschiff-Prospekte und Pflegeheim-Hochglanzinserate versprechen? Erst gestern erzählte mir eine Kollegin, dass es nächstes Jahr wohl nicht mehr möglich sein werde, in den Altersheimen solche wie die gerade durchgeführten Interviews mit den älteren Menschen zu führen. Denn aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen wird es einfach verboten, mit ihnen zu reden. Ich: „Aber sind sie denn entmündigt?“ Sie: „Nein, offiziell nicht, aber real gesehen sind sie es in den Einrichtungen“. Am Ende also wieder das Kind, dem alle Teilnahmerechte entzogen werden? Und das soll das Beste sein, das mir noch bevorsteht?
Mit diesem Jahreswechsel hatte dann erstmals für mich der Neujahrswunsch nach Gesundheit im Jahr 2018 richtig an Bedeutung gewonnen. Denn Gesundheit erscheint nicht mehr als Normalzustand. Warum sich Gesundheit wünschen? Das hielt ich immer für so überflüssig, wie wenn man als Kind zu Weihnachten Gewand geschenkt bekam. Etwas, das einem sowieso im Alltag zusteht, soll ein besonderes Geschenk sein? Dann die Besuche der Freunde, die von ihren Eltern erzählen. Der eine von seiner Mutter, der es jetzt immer schlechter geht und wo es wohl bald zu Ende ginge. Der andere berichtete vom Vater, den er im Krankenhaus besuchte, weil dieser mit ihm reden wollte. Und der dann mit ihm zusammen am Laptop die eigene Totenanzeige formulierte, um noch jetzt im Leben selbst bestimmen zu können, wie er danach dargestellt wird. Der Freund erzählt, dass es irgendwie unheimlich ist, nun diese Datei am Laptop zu haben, mit dem noch – hoffentlich lange – fehlenden Todesdatum.
Aber ist das Sterben bzw. der Tod denn wirklich etwas so Dramatisches? Am Schluss, nach einem Leben, da soll das Beste ja noch kommen. Im Jenseits, da wartet dann, gleichsam als Wiedergutmachung für das am eigenen Leib bewusst erlebte Werden und Sterben des menschlichen Organismus, eine Zeit ohne Zeit. Ein Sein ohne verwesendes Gewesensein. Aber, so steht´s im Kleingedruckten des Himmelreich-Vertrags, dieses Heilsverspechen gilt nicht für alle, sondern nur für die „Gerechten“ unter jenen, die an diesen oder jenen erlösenden Gott glauben wollen. Für mich als Atheisten scheint es daher auch wirklich aus zu sein wenn es aus ist.
Heuer im Juni kommt mein 50. Geburtstag. Das mit dem Besten, das am Schluss noch kommen wird, erscheint mir dabei ein wenig wie dieser vertröstende Arbeitsdisziplinierungsspruch „Zuerst die Arbeit, dann das Spiel“. Eine nur kurzfristige Alternative dazu sehe ich im vor wenigen Jahren oft kursierten Spruch „Carpe diem – Genieße den Tag“.
Aber vielleicht geht es im Leben auch gar nicht um Wachstumskurven und Glücksmaximierung. Vielleicht benötigt es zum Glücklichsein gar keinen Weiterentwicklungs- und Fortschrittsgedanken. Mal sehen.
Joachim Hainzl