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ausgabe #80. prosa. franziska hederer

ausfüchte & ausflüchte


Beschäftigt sich der ausreißer mit Ausflüchten so ist da eine synonyme Beziehung der beiden Begriffe erkennbar. Dies bestätigt sich auch im digitalen Wörterbuch der Synonyme. Ist Ausreißen nicht auch gewissermaßen eine Ausflucht? Woraus wird ausgerissen? Wovor flüchten wir aus? Ein kurzes Befragen der Bedeutung von Ausflüchten soll nicht zuletzt zum Ausreißen animieren.

Während die einen dem System kritisch gegenüberstehend ausflüchten, um vielleicht soetwas wie einer Wahrheit oder besseren Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, weil diese permanent verstellt und so in ihrer Komplexität überhaupt nicht gesehen wird, so flüchten die anderen in selbstgemachte Pseudowirklichkeiten, die zum Beispiel heißen können Haus, Auto (am besten SUV), Garten, Zimmer, Küche, Kabinett, Familie, Hund, Freizeit und Bonaöl. Die eigenen vier Wände mit einem Zaun rings herum, um sich jeglicher Komplexität der Weltendinge zu entziehen. So gesehen sind Ausflüchte eine Frage des Standpunkts und von wo aus wohin ausgeflüchtet werden soll. Dahingehend hat das Ausflüchten auch unterschiedliche Zwecke wie Ausweich- oder Ablenkungsmanöver, Tatsachenverdrehung oder Komplexitäts- und Wirklichkeitsbewältigung.
Wenngleich hier beispielhaft zwei entgegengesetzt wirksam werdende Ausflüchte beschrieben sind, aus der kleinen Welt heraus oder in die kleine Welt hinein, so ist wohl anzumerken, dass es verschiedenste Möglichkeiten gibt, auszuflüchten und ebenso viele verschiedene Gründe. Hauptmotiv ist allerdings immer eine Form des Nicht-Wahrhaben-Wollens, eine gewisse Ungläubligkeit gegenüber offenbar unglaublichen Tatsachen. Dies kann vom Klimawandel angefangen, über politische Entwicklungen, die Einhaltung der Menschenrechte bis hin zur Massentierhaltung vieles sein; so eben auch das Nicht-Wahrhaben-Wollen des Nicht-Wahrhaben-Wollens. Es handelt von Konsequenzen, die zu tragen wären, die wir aber nur ungern auf uns nehmen. Der Bequemlichkeit halber.  

Im Gegensatz jedenfalls zur Flucht, die an sich immer unfreiwillig geschieht, aus einer politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder ideellen, in jedem Fall das Leben bedrohenden Notlage heraus, sind Ausflüchte, wenn auch nicht immer im vollen Bewusstsein, so dennoch freiwillig gewählte Ausweichmanöverstrategien, Tatsachenverdrehungsstrategien oder Wirklichkeitsbewältigungsstrategien. Das heißt aber nicht, dass diese zunächst freiwilligen Ausflüchte nicht letztendlich auch in einer unfreiwilligen Flucht enden können. Genau das ist die eigentliche Gefahr jener Ausflüchte, die dem System kritisch gegenüberstehen und diese Haltung öffentlich kundtun. Auswirkungen diesbezüglich sind aktuell in der Türkei oder auch in Ungarn wahrzunehmen. Systemkritische AkteurInnen, AusreißerInnen gewissermaßen, werden politisch verfolgt und ihrer Freiheit beraubt. Dann lieber doch brav gehorchen und sich in die eigene kleine Welt zurückziehen, in das Nicht-Wahrhaben-Wollen? Lieber doch nicht auf die Straße gehen und etwaigen Unmut über verschobene Machtverhältnisse kundtun? Den Mund halten und nicht hinschauen? Hatten wir das nicht schon mal?  

Wir leben in Österreich in einer verwöhnten, gut gepolsterten Gesellschaft, die aus diesem Wohlstand heraus (der wohlgemerkt nicht allen zukommt) gerne die Ausflucht in eine kleine, feine übersichtliche Welt bevorzugt, nicht zuletzt um die eigenen Pfründe zu schützen. Jene AusflüchtlerInnen, die an komplexen Weltzusammenhängen interessiert sind und vielleicht noch die Welt verbessern oder gar retten wollen, weil sie an den Menschen als ein mündiges solidarisches Wesen glauben, werden schief angeschaut und mitleidig belächelt. Diese Haltung erscheint vielen zu anstrengend, zu denkaufwändig und überhaupt zu kompliziert, um auch gelebt zu werden. Die politische Antwort, die das kleinweltliche Dasein und Denken unterstützt, ist eine bestmögliche Sicherheitsarchitektur durch Aufstockung der Exekutive und Kontrollorgane, Verbote und Strafen top down verordnend. Maßnahmen, die den Solidaritäts- und Gemeinschaftssinn untergraben und eine Atmosphäre des Misstrauens und damit der gesteigerten Angst hervorrufen. Eine Stimmungslage welche die Menschen in zwei Lager dividiert: die Guten, Braven, Folgsamen und die Schlechten, Bösen, Schlimmen. Hatten wir auch das nicht schon mal? Bahnt sich da nicht gefährlich etwas an?
Ich erinnere mich an das Buch und den gleichnamigen Film „Ein deutsches Leben“, in dem Brunhilde Pomsel, Chefsekretärin von Goebbels, die 1930er Jahre, die Vorkriegsjahre, aus ihrer sehr einfachen, ja nahezu naiven Sicht beschreibt. Plötzlich war Eva ,die jüdische Freundin mit der man hin und wieder ein Bierchen getrunken hat, nicht mehr da und keiner hat was von ihr gewusst. Sollte uns das nicht aufhorchen und kritisch und genauer mit aktuellen Tatsachen umgehen lassen?

Es wird immer enger. Spielräume, die auch immer Verhandlungsräume sind, verschwinden zusehends. Es regiert das Entweder Oder. Ausflüchte aus dieser Enge sind dringend notwendig. Wir müssen ausreißen vor dem Nicht-Wahrhaben-Wollen, das mit verdrehten Tatsachen, die eine vollkommen vereinfachte und verkürzte Weltsicht darstellen, operiert, Wirklichkeiten verstellt und es absurder Weise schafft, für viele einen grundlegenden Weltbaustein herzustellen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Pluralität gelebt wird und Individualität nicht als ein „Machen was ich will“, sondern als die Basisvoraussetzung solidarischen Zusammenlebens begriffen wird. Dies kann nur funktionieren, wenn wir uns in der Gesellschaft engagieren. Wenn wir dem Fremden, dem Unbekannten gegenübertreten, es erkunden und in unserer Welt integrieren. Wenn wir gegen Gewalt für den Frieden eintreten und offenen Herzens die Türen nach vorne hin aufmachen. Eine Haltung, eine Lebensform, die uns oftmals abverlangt, über den eigenen Schatten zu springen und so etwas wie einen zivilen Ungehorsam einfordert. Wenn so unsere Ausflüchte von heute aussehen, dann gibt es Hoffnung für ein solidarisches, gemeinschaftliches Morgen.

                                

Franziska Hederer

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