ausgabe #80. prosa. julia knaß
oh du mein liebes österreich
Wehret den anfängen, wehret den anfängen, wehret den anfängen“, schreiben sie überall fassungslos. aber es ist nicht möglich, sich gegen etwas zu wehren, was nie erneut angefangen hat, weil es überhaupt kein ende gab. was gegenwärtig geschieht, ist nur eine konsequente fortführung einer geisteshaltung, mit der in österreich nie gebrochen wurde. es gab nie eine zäsur, es gab kein „vor 1945“ und „nach 1945“, der bruch mit dem nationalsozialistischen gedankengut, der bruch mit dem antisemitismus hat in österreich nie stattgefunden. wer etwas anderes glaubt, wer jetzt wirklich erschüttert und fassungslos ist, der lügt sich an, der betrachtet den schönen strich, der mit kreide von österreich 1945 über die geschichte gezogen wurde, der bruch wurde aufgemalt, der bruch war kein echter riss, der betrachtet dieses malwerk und tut-so-als-ob das ein echter graben wäre. und die österreicherin ist gut darin, sich etwas vorzuspielen, und der österreicher ist gut darin, ein opfer zu sein, das wahre opfer, nicht? und jetzt kommen sie alle hervor, die moralapostel, und schreien „wehret den anfängen, wehret den anfängen, wehret den anfängen“, aber nicht, weil sie sich wirklich wehren wollen, sondern weil sie in zehn jahren sagen wollen „ich hab’s euch ja gesagt, damals“. sie positionieren sich nur, damit sie später auf der RICHTIGEN seite der geschichte gestanden sind, ja. deswegen passiert ja auch NICHTS in diesem land, weil es hier niemanden gibt, der sich überhaupt gegen irgendetwas WEHREN will – wir sind ja alle exzellente opfer – sonst hätten wir uns ja schon früher gegen das vorherrschende gedankengut wehren können, nicht?
Julia Knaß