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You are here: Home Ausgaben 81 | März/April 18 casablanca blue

ausgabe #81. prosa. saša ilić

casablanca blue


Es verging nicht viel Zeit, seit Franz den Führer erwähnt hatte, und eines Morgens erwartete mich ein riesiger Stein im Schaufenster des Ateliers sowie ein Haufen Splitter drumherum. Noch am selben Tag ließ ich eine neue Glasscheibe einsetzen und entfernte meinen Namen vom Geschäft. Das war eigentlich Pauls Vorschlag. Er glaubte, dass wir uns namenlos leichter durch die Berliner Geschäftswelt würden bewegen können. Das währte nicht lange. Eines Abends, als Franz, Hubert und ich die Aufnahmen beendet hatten, begannen wieder Steine zu fliegen. Hinter ihnen waren Hundegebell und Stimmen von Menschen zu hören. Hinter dem Vorhang stehend sah ich hinaus und erblickte eine Gruppe von Männern mit Hunden an der Leine. Sie erinnerten mich an wütende Eigentümer, die aufgrund fehlender Mietzahlungen die Geduld verloren und sich zu äußersten Maßnahmen entschlossen hatten. Sie nahmen ihre ausgehungerten Hunde und machten sich auf, die Schulden einzutreiben. Franz und ich sahen einander an. Diesen Teufel habe ich gemeint, sagte er, als er in Windeseile das Kleid auszog. Einen Moment lang vergaß ich die Szene vor meinem Atelier. Mager und hochgewachsen stand er ohne Unterwäsche vor dem Spiegel. Sein muskulöser Hintern war vom Hungern unter den Beckenknochen eingefallen. Hubert versuchte panisch, das Fenster in der kleinen Toilette zu öffnen. Dann flog noch ein großer Stein herein und hinter ihm sprang ein riesiger kurzhaariger Hund durch das zerschlagene Schaufenster. Mit einem Mal stand ich ihm direkt gegenüber. Ich hörte den Schrei von Franz und sah, wie er nach dem Kleid griff, um seine Blöße zu bedecken und Hubert hinterher in die Toilette rannte. Die Meute heulte auf der Straße, während sich der Hund für einen Augenblick vor mir verschanzte. Wir schauten einander an, als versuchten wir uns zu erinnern, woher wir uns kennen. In seinen Augen meinte ich, Zweifel zu erkennen: vielleicht würde er all das auch gar nicht tun, wenn sie ihn nicht tagelang ausgehungert und misshandelt hätten. Während er seine Fangzähne bleckte, wich ich Schritt für Schritt vor ihm zurück. Ich wollte irgendwie bis zur Tür, die in meine Dunkelkammer führte, gelangen. Ich stieß einen Hocker und das Stativ um. Der Hund begann dumpf zu knurren und dann sprang er auf mich zu. Ich spürte den Schlag seiner Pfoten bevor ich stürzte. Ich dachte, dass jetzt der Biss käme, aber das passierte nicht. Er sprang über mich hinweg und griff die Puppe mit dem Hut an. Ich erhob mich auf die Ellenbogen und kroch zur Tür der Dunkelkammer. Die Beine spürte ich kaum. Zum Glück war die Tür auf; ich schob mich nur hinein und machte sie zu, indem ich mich auf die andere Seite setzte und mich mit dem Rücken dagegen stemmte. Für etwas anderes fehlte mir die Kraft. Den Hund hörte ich im Atelier wüten. Ich dachte, die aufgeheizte Meute würde bald eindringen, aber sie gab sich damit zufrieden, das Schaufenster zu demolieren. Als alles still geworden war, versuchte ich zu hören, was hinter der Tür geschah. Zunächst nichts. Dann schien es, als bewegte sich etwas auf dem Fußboden. Als würde jemand mit dem Fuß gegen einen metallenen Gegenstand treten. Dem Geräusch nach zu urteilen, das zu mir drang, begriff ich, dass das keine willentliche, beabsichtigte Bewegung war, sondern eine zufällige, tierische. Dann näherte er sich mir. Ich spürte ihn hinter der porösen Holztür. Ganz dicht stand er an der Tür und machte dasselbe wie ich. Er versuchte, meinen Atem zu hören, denn mein Geruch hatte schon längst seine Sinne erreicht. Die Puppe hatte ihn nicht befriedigt. Sie trug zwar Kleidung von irritierender Farbe, ihr Fleisch jedoch war hart. Vielleicht war es ihm auch gelungen, ihren schmalen Torso mit den Zähnen zu durchstoßen. Wir waren einander eine gewisse Zeit sehr nah, getrennt von der Tür, ich im Dunkeln, er im Hellen. Dann rief ihn jemand von der Straße. Ich hätte schwören können, den Namen Kaspar gehört zu haben. Der Hund gab einen tiefen Laut von sich und machte sich langsam zu seinem Besitzer auf. Ich nahm an, dass er durch dasselbe Loch gesprungen war, durch das er auch hereingekommen war. Ich blieb allein. Franz und Hubert waren durch das Toilettenfenster geflohen. Ich wusste, dass dieser Raum mir nicht mehr gehörte.

Genau dasselbe geschah später in Wien, wo ich versuchte, mir erneut ein Atelier aufzubauen. Paul konnte immer weniger als Drehbuchautor arbeiten, und das einzige, was er noch tun konnte, war Zeitung lesen und ins Café „Central“ gehen, woher er jeden Abend mit fürchterlichen Geschichten darüber, was uns erwarten würde, zurückkehrte. Ich wollte nicht glauben, dass ich Wien würde verlassen müssen. Ich hatte einen ausgezeichneten Auftrag angenommen. Ich fertigte Portraits angesehener Persönlichkeiten Wiens für eine große Monongraphie des „Zsolnay“-Verlags an. Viele dieser Leute wollten, dass ich sie in ihrem privaten oder beruflichen Ambiente ablichte. Die einen fotografierte ich neben dem Kamin, die anderen neben ihrer Bibliothek im Arbeitszimmer, die dritten im Garten vor dem Haus. Als ich die Adresse eines Architekten in Grinzing bekam, brach ich gewohnheitsmäßig auf, ohne zu prüfen, um wen es ging. Erst als ich das große schmiedeeiserne Tor erreicht hatte, hinter dem mir über den großen Rasen ein Windhund entgegenrannte, begriff ich meinen Fehler. Das war das Haus von Otto Drabek.


foto

Foto: Edith Barakovich, Windhund 1928; Ullstein Bild.


Die Hausangestellte führte mich in den Salon, in dem mich Architekt Drabek erwartete. Er saß in einem tiefen Sessel mit einem Wolfsmuster auf der Polsterung. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, als er mich begrüßte. So sehen wir uns wieder, liebe Edith, sagte er, als er sich aus dem Sessel erhob. Dann drückte er mir fest die Hand und schaute mir in die Augen. Wissen Sie, dass mein Kaspy gestorben ist, sagte er nach einer kurzen Pause leise. Das hatte ich nicht gewusst. Ich wollte ihm sagen, dass ich gehört hatte, Windhunde würden nicht lange leben, aber ich hielt mich zurück. Die traurige Grimasse veschwand schnell von seinem Gesicht. Er wurde wieder der alte Drabek, dieses Mal nur noch selbstbewusster. Ich sollte ihn neben dem Fenster fotografieren, so, wie er es sich ausgedacht hatte, damit ich die Warteatmosphäre „einfange“. Als ich danach fragte, auf wen er da wartet, lächelte Drabek kalt und zeigte mit der Hand auf die Tür, die in den Nachbarraum führte. Ich folgte ihm. Ich werde Ihnen etwas zeigen, sagte er als er die Tür öffnete. Mit einem Mal waren wir in einem verdunkelten Raum, durchzogen von Leinen, an denen großformatige Fotografien hingen. Mir war nicht ganz klar, ob wir uns in einem Wäschezimmer oder einer improvisierten Galerie befanden. Drabek zog dann die Vorhänge auf und ich konnte die Früchte seiner Arbeit sehen. Auf diesen Bildern war eine riesige Baustelle. Viele Baracken und Menschen in Arbeitskleidung. Die langen Schatten hoher Baugerüste unterteilten die breiten, betonierten Straßen zwischen den Baracken. Hier habe ich ein paar Jahre gelebt, begann mir Drabek zu erzählen. Es handelt sich um das Arbeitslager Morungen, an dessen Rekonstruktion ich beteiligt war. Ein Lager, wiederholte ich bestürzt, was für ein Lager? Ein Arbeitslager, antwortete mir Drabek begeistert, vor allem für Frauen. Gleich werden Sie es sehen... Tatsächlich, die Fotografien waren chronologisch angeordnet, von den Bauphasen des Lagers bis zu seiner Inbetriebnahme. Es folgten Bilder von Kolonnen der Lagerinsassinnen in Zivil, dann in Lagerkleidung. Morgenappelle, Arbeitsszenen am Fließband, auf dem ordentlich gestapelte Pakete von Kampfmunition zu sehen waren. Wie Sie sehen, sagte Drabek zufrieden, dem Reich ist es gelungen, negative Energien in etwas Nützliches zu verwandeln. Alle, die ihre Zeit für die Zersetzung des Systems verwendet hatten, wurden auf bestmögliche Weise mit Arbeit versorgt. Es muss sicher nicht erwähnt werden, dass die meisten solcher Subjekte Frauen sind. Vor allem Kommunistinnen, Feministinnen und Jüdinnen. Ich spürte, dass seine Spucketropfen wie kleine Nadeln meinen Hals trafen, als er mir das erklärte. Er war sichtlich erregt, schwitzte stark und verbreitete einen unangenehmen Körpergeruch. Und dann konfrontierte er mich mit den speziellen Umerziehungsmaßnahmen in Moringen. Es folgte eine Reihe Fotografien, auf denen vor allem Frauen waren, aber in schrecklichen, erniedrigenden Posen: nackt, sehr oft mit Hundeleinen oder dünnen Silberketten um den Hals. Die meisten knieten und hatten die Hände auf den Boden gestützt. Neben ihnen stand jemand in brauner Uniform und glänzenden Stiefeln. Er war nur bis zum Gürtel zu sehen. Den Beinen und Hüften nach schien es sich um einen Mann zu handeln. In einer Hand hielt er die Leine, in der anderen eine Peitsche. Die Frauen zu seinen Füßen wirkten gepeinigt, einige trugen die Spuren von Schlägen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, als ich das sah. Auf meinen Schultern spürte ich Drabeks Blick. Ich hatte das Gefühl, er würde sich jeden Moment auf mich stürzen. Das ist das Resultat der Umerziehung, so fasste Drabek es zusammen und fuhr mit dem Finger die Kette entlang, die von der Hand eines der Aufseher zum Hals einer schwarzhaarigen Frau reichte. Die Frau war von der Seite fotografiert, genauso, wie ich einst Kaspar in meinem Atelier abgelichtet hatte. Ihr Blick war erloschen, im Rippenbereich und auf den Hüften hatte sie dunkle Striemen vom Auspeitschen. Das ist schrecklich, entfuhr es mir unwillkürlich. Nein, widersetzte sich Drabek, das ist die rationale Antwort des Staates auf die Organisation von Streiks, den Druck kommunistischer Pamphlete, letztlich auf den Müßiggang, der unter den Frauen herrschte. Mein Blick traf seinen. Da bemerkte ich einen Punkt in der blauen Regenbogenhaut seines rechten Auges, der für einen Moment eine optische Täuschung zu sein schien. Es sah aus, als hätte er zwei Pupillen in einem Auge, so dass er seine Wahrnehmung nicht mehr unter Kontrolle hatte. Seine Blende war offensichtlich kaputt und er konnte seine Umgebung nicht mehr ohne diesen Defekt sehen, der zu all den Szenen auf den Fotos führte, die ihn erregten. So, darauf warte ich, sagte er am Ende: den Anfang eines geordneten Lebens.

Tag und Nacht standen wir am Hafen in Biarritz im Regen. Mein Mantel wurde steif und schwer vom Wasser und mein Hut fiel nach siebzehn Stunden Regen vollständig auseinander. Eine Zeitlang saß ich auf dem großen Koffer und lehnte mich an Pauls Seite. Obwohl meine Blase voll war, wollte ich mich nicht wegbewegen. An seiner anderen Seite stand Lilly mit ihrer Mutter Ida. Sie hatten zweimal soviele Sachen wie wir, aber nicht einen Augenblick lang, seit wir am 13. Juni Paris verlassen hatten, hatten sie daran gedacht, sich des überschüssigen Ballastes zu entledigen.

[...]

Casablanca ist die merkwürdigste Stadt, die ich je gesehen habe. Eine Verbindung von Welten, die einander auf den gepflasterten Straßen ablösen oder kreuzen, wie der amerikanische „Packard“ und kleine Esel mit Hängeohren, die überall von den Berbern herumgeführt werden. Als wir nach mehrtägiger Reise den Hafen erreichten – wir waren zuerst nach Lissabon gefahren, wo sie uns nicht aufgenommen hatten, und dann zur afrikanischen Küste – schien es mir, als wäre ich auf einem anderen Planeten, und nicht auf einem anderen Kontinent gelandet.

[...]

Zur ungekürzten Version....

Epilog in der dritten Person

Edith Barakovich, Fotografin, Ende Dezember 1940 nahm sie sich, auf die Ausreisepapiere nach Amerika wartend, mit vierundvierzig Jahren in Casablanca das Leben. Die einzige Spur von ihrer Existenz sind ihre Fotografien, darunter auch das Portrait eines Hundes aus dem Jahr 1928.

Paul Frank(l), Drehbuchautor, fuhr im Frühjahr 1941, als er endlich das amerikanische Visum erhalten hatte, mit einem spanischen Schiff nach New York. Ein Jahr später siedelte er nach Los Angeles um. Ungeachtet zahlreicher Versuche gelang es ihm nicht, ein bedeutenderes Filmprojekt in Hollywood zu realisieren. Sein letzter Film stammt aus dem Jahr 1947 und trägt den Titel „The Invisible Wall“. Frankl heiratete noch einmal und finanzierte sich mit Hilfe seiner erfolgreichen europäischen Freunde George Froeschel und Gina Kaus. Er starb 1976 in L.A.

Lilly Joss Reich, Fotografin, 1911 in Wien geboren, nach der Ausreise in die USA begann sie eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Magazinen „Life“, „Look“ und „Ladies Home Journal“. 1958 heiratete sie den bekannten Wiener Theaterkünstler Richard Reich. Bereits Ende der sechziger Jahre befasste sich Lilly nicht mehr mit Fotografie und widmete sich der Kochkunst. Sie veröffentlichte ein sehr erfolgreiches Kochbuch mit Rezepten ihrer Mutter Ida Cohn unter dem Titel „Viennese Pastries“. Am 31.3.2006 starb sie in New York.

Ludwig Barakovich, Apotheker aus Zemun, seine Spur verliert sich im Konzentrationslager auf dem alten Belgrader Messegelände.

Otto Drabek, nach dem Zweiten Weltkrieg wegen Kriegsverbrechen im Konzentrationslager Mauthausen-Gusen zum Tode verurteilt. Am 27. Mai 1947 wurde er gehängt.


Saša Ilić



Übersetzung aus dem Serbischen: Eva Kowollik

Aus dem Erzählband von Saša Ilić: Lov na ježeve. Fabrika knjiga,
Beograd 2015



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