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ausgabe #81. prosa. jessica kasimir

die misophonisten


Das klirrende Klackern des Kaffeelöffels, der in ungleichmäßigen Abständen gegen das Porzellan der Tasse schlägt, während er zwei Stücke Zucker auflöst, reißt an Noras Nerven. Noch ist ihre Schmerzgrenze nicht erreicht, aber sie spürt den Zorn wie ein bleiernes Kugelspiel in ihrem Bauch. Die geballten Fäuste an ihren Seiten verstärken das Gefühl des Ausgeliefertseins. In ihrem Kopf entstehen die Sätze, für die sie sich später schämen wird. Gemeine, gehässige, hasserfüllte Anschuldigungen.
Das Motorrad hat seinen Auftritt. Jürgen lässt es aufröhren, wieder und wieder, bis sich das brodelnde, dröhnende, blecherne Kreischen der Maschine in Noras Gehörwindungen schneidet. Einem Impuls folgend berührt sie mit der Fingerspitze ihrer rechten Hand vorsichtig ihr Ohr. Es raschelt, tut aber nicht weh. Kein Blut. Natürlich nicht. Die Verletzung sitzt woanders. Nora könnte heulen, widersteht aber dem Drang, aufzuspringen und wegzurennen. Sie bleibt auf dem Plastikstuhl sitzen wie die anderen 15 Personen, die auf identischen Sitzgelegenheiten ausharren und darauf warten, wann ihre Schmerzgrenze überschritten werden wird.
Einer bricht immer. Es ist die neunte Sitzung und noch nie sind sie alle durchgekommen. Vor ihr liegen die inzwischen vertrauten Hilfsmittel, mit denen Nora sich von den Angriffen ablenken soll. Ein Roman, ein Computer, ein Springseil, Ohropax. Alles ist auf ihre Interessen abgestimmt für die bestmöglichen Ergebnisse. Es gibt eine Anleitung für einen sogenannten Meditations-Quickie. Süßigkeiten befinden sich neben drei verschiedenen Sorten Chips. Nichts hat bisher ausgereicht. Einmal, und es ist ihr peinlich, so dass sie niemandem, nicht mal Jürgen, davon erzählt hat, hat sie sich wehgetan. Sie hat sich gekniffen, bis die Haut ihres Handgelenks rot und verschrammt aussah. Um die Wirkung zu verstärken, hat Nora eine Reißzwecke benutzt, zwecklos. Das belanglose, rastlose Labern des Radiomoderators fräst sich auf Bahnen substanzloser Popsongs in ihren Kopf.
Noras Bewusstsein fühlt sich an wie eine dauerhaft auf Empfang eingestellte Antenne, und sie kann dem nicht standhalten. Sie kann es nicht und tut es dennoch und es hat kein Ende und sie weiß sich nicht zu helfen. Manchmal denkt sie, es wäre vorzuziehen, verrückt zu werden. Noch nie ist sie im Film oder in einem Roman einem Wahnsinnigen begegnet, der nicht völlig auf sich fixiert gewesen wäre. Vielleicht wäre dann endlich Ruhe? Aber sie will nicht wirklich verrückt werden. Sie ist bereits anders genug. Sie ist ein Freak. Das wurde ihr häufig genug attestiert, wenn sie jemanden bat, die Tür leiser zu schließen oder Acht zu geben, nicht mit offenem Mund zu kauen. Sie stellt sich an, ja. Wenn sie wüsste, wie sie damit aufhören kann, Nora würde viel dafür tun. Sie will sich nicht nur dann selbst wahrnehmen können, wenn sie allein ist. Der Mensch ist ein Gemeinschaftstier, liest man immer wieder. Vielleicht fehlt ihr etwas Entscheidendes zum Menschsein. Jürgens Kurs ist ein erster Hoffnungsträger in einer langen Reihe von vergeblichen Maßnahmen. Desensibilisieren für Anfänger. Wiedereinsteiger wäre das passendere Wort. Nora ist sich sicher, dass es nicht immer so hoffnungslos war. Sie kann sich nur nicht daran erinnern.
Anita steht inzwischen vorn, um das Motorrad abzulösen. Sie kaut Kaugummi, und Nora überlegt aufzugeben. Sie weiß jetzt schon, dass sie Anita in den nächsten Minuten Gewalt antun wollen wird, und sie wappnet sich für die Welle von Hass, die sie auf ihrem Platz lähmen und ihr Blut zum Kochen bringen wird. Wenn sie Glück hat, wird der Puls in ihrem Kopf so laut pochen, dass er die Schmatzgeräusche übertönen kann. Wenn sie Glück hat. Nora unterdrückt die unerwarteten Tränen. Die acht Fernseher, die im ganzen Raum verteilt sind, zeigen in Dauerschleife Bilder aus der ganzen Welt. Explosionen. Brüllende Männer in Anzügen und Uniform. Die sterbende Antarktis. Sich müde voran schleppende Menschenmassen auf einer Straße, die kein Ziel zu haben scheinen. Hintergrundgeräusche, die nicht zu ignorieren sind.

„Geht’s wieder?“, fragt Jürgen den Mann in dem grünen Wikingerpullover. Nora fragt sich, ob er noch immer rot angelaufen ist, weil er vorhin aus der Lagerhalle gestürmt ist oder weil er in diesem Moment vor der Gruppe steht. Sein Name ist Marten, erinnert sie sich. Er ist Buchhändler oder Übersetzer. Irgendwas mit Büchern. Die Vorstellungsrunde ist zwei Monate her, und sie haben nicht viel Gelegenheit, zwischen den Übungen miteinander zu sprechen. Danach sind immer alle bestrebt, schnell nach Hause zu gehen.
Marten nickt, und es sieht aus, als würde er die Verlegenheit aus seinem Gesicht schwenken. Wok-Kopf denkt Nora und schämt sich, weil sie genau weiß, wie er sich jetzt fühlt. Es ist schlimm genug, nicht standzuhalten. Zeugen dabei zu haben grenzt an Demütigung. Sie versucht sich an einem Lächeln und rechnet nicht damit, dass Marten es sieht. Ihr wird heiß vor Verlegenheit, aber sie will ihn auch nicht nochmal im Stich lassen, also lächelt sie tapfer weiter, bis er wegsieht. Sein rechter Wangenknochen zuckt.
Jürgen drückt noch einmal Martens Arm und entlässt ihn dann aus dem Mittelpunkt.
„Wie sieht’s mit den Eindrücken der anderen aus? Gab es noch jemanden, der das Gefühl hatte, der Geräuschkulisse heute nicht gewachsen gewesen zu sein? Hat eines der Hilfsmittel besonders unterstützt? Jeder Beitrag hat seine Berechtigung. Wir sitzen alle im gleichen Boot.“
Bei diesen Worten bedenkt er erneut Marten mit einem dieser huldvollen Blicke, die Nora trotz des Ernstes der Lage zum Grinsen animieren wollen. Sie kann es meist unterdrücken oder zumindest verwandeln, zum Glück. Sie will nicht, dass hier jemand annimmt, dass sie nicht mit Kopf und Herz dabei ist, aber manchmal, wenn es allzu feierlich wird, ist es schwer für sie, sich einzulassen. Humor oder Unreife. Die Grenze scheint sehr durchlässig. Das macht nichts. Sobald die Kreissäge angeht oder Anita zu grell und zu künstlich lacht, ist Nora wieder eingenordet.
„Keine falsche Schüchternheit! Ihr wisst, hier seid ihr in einem sicheren Raum.“ Jürgen schmunzelt. „Also, wer wollte unserer Anita hier vorhin an den Kragen, als sie Don’t worry, be happy mit dem Kaugummi im Mund gesungen hat?“

Es ist kalt, als sie aus dem Gebäude treten. Nora kann sogar ihren Atem sehen.
„Vielleicht gibt’s doch noch Schnee zu Weihnachten.“
Marten lächelt mit zusammengepressten Lippen. Sein Kopf ist gesenkt, so dass seine Wimpern ihr zuwinken, aber Nora kann an dem weißen Dampf sehen, dass die Worte aus seinem Mund stammen.
„Ja“, zögert sie, „vielleicht.“
Sie weiß nicht, was sie noch sagen soll, und sie will auch nicht überlegen. Sie will nur nach Hause. Sie ist erschöpft. Sie hat das Gefühl, ihr emotionales Kontingent ist ausgeschöpft. Sie hat heute keine Kraft mehr, sich und andere zu hassen. Betreten fragt sie sich, ob sie es jemals für die guten Gefühle ausgeben wird. Für Zweisamkeit. Sie würde so gern, aber es ist nie etwas übrig. Sie will nur noch ihre Ruhe.
„Hast du vielleicht noch Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen? Ich meine, ich weiß, du bist bestimmt müde und alles, aber---“
Marten muss es in ihrem Gesicht lesen, denn er bricht ab und wird zu Noras grenzenloser Scham wieder rot. Sie fühlt sich wie eine Versagerin. Grausam und egoistisch. Sie will nach seinem Arm fassen und ihm ohne Worte mitteilen, dass es nicht seine Schuld ist. Dass seine Frage liebenswert ist und nicht absurd. Dass er einfach die Falsche erwischt hat. Sie bringt zumindest noch so viel Hass dafür auf, dass er sie in diese Lage bringt.
„Ich---“
„Schon gut. Ich verstehe.“
Der gelbe Schal um seinen Hals verschluckt seine Worte. Seine Vorliebe für dicken Strick verstärkt auf irrationale Weise ihre Schuldgefühle. Nora merkt, wie ihre Kehle eng wird. Sie nuschelt eine Entschuldigung, aber da hat Marten sich bereits abgewendet und beeilt sich von ihr wegzukommen. Sie wünscht sich, sie könne es ihm gleichtun.         


 Jessica Kasimir

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