ausgabe #82. bericht. gerald lamprecht
jüdisches jakomini
Geschichte verdichtet sich im Stadtraum. Die unterschiedlichen Epochen und Besiedelungsphasen überlagern sich Schicht für Schicht. Nicht immer können diese auf den ersten Blick wahrgenommen oder ins Bewusstsein der Menschen geholt werden. Für den Architekten Bogdan Bogdanović gleicht die städtische Architektur, der Stadtraum einem Palimpsest, einer Pergamenturkunde, die durch stetes Auslöschen, Abkratzen und Überschreiben gekennzeichnet ist. Das Palimpsets, so die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, betont aus einer stets gegenwärtigen Perspektive das zeitliche Aufeinanderfolgen ebenso wie die räumliche Gleichzeitigkeit von Geschichte. Es verbindet die Geschichte mit der Erinnerung und durch geeignete Methoden ist es möglich, die unter der obersten Schicht liegenden älteren Schichten und Schriften sichtbar und lesbar zu machen und sich so tief in das Erinnerungsdepot, das der Stadtraum darstellt, zu begeben.
Das Bild des Stadtraumes als Palimpsest trifft auch auf die Spurensuche nach der jüdischen Geschichte, den Jüdinnen und Juden in den europäischen Städten zu. Die NationalsozialistInnen und ihre HelferInnen vernichteten im Holocaust beinahe vollständig das jüdische Leben und die jüdische Kultur in Zentraleuropa. Sie beraubten und vertrieben die Jüdinnen und Juden aus ihren Wohnungen, Häusern und aus den Städten und Dörfern und ermordeten all jene, die ihnen nicht durch Flucht ins Exil entkommen konnten. Darüber hinaus setzen sie alles daran, auch die Erinnerung an die Jüdinnen und Juden aus dem kulturellen Gedächtnis zu löschen. Synagogen, Beträume, Mikwoth wurden ebenso zerstört wie Straßen umbenannt und kulturelle sowie religiöse Artefakte, die auf jüdisches Leben verweisen hätten können, wurden geraubt oder vernichtet.
Dementsprechend finden sich nach den Verwüstungen des Nationalsozialismus und Jahrzehnten des Schweigens und Negierens der Gräuel in der österreichischen Gesellschaft auch im Bezirk Jakomini kaum auf den ersten Blick sichtbare Spuren jüdischen Lebens. Dieses hatte seinen Anfang ab der Mitte des 19. Jahrhunderts genommen. So konnte sich nach der Emanzipation der jüdischen Bevölkerung in der Habsburgermonarchie auch in Graz eine jüdische Gemeinde etablieren. Zunächst ließen sich vor allem Jüdinnen und Juden aus den benachbarten Regionen der Steiermark, vor allem aus Westungarn, in Graz nieder ehe gegen Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem bis zum Ende des Ersten Weltkrieges auch Menschen aus Galizien und der Bukowina in Graz eine neue Heimat fanden. Die bevorzugten Wohngebiete waren zunächst die traditionellen ZuwanderInnenbezirke Gries und Lend. Doch mit der städtebaulichen Erschließung von Jakomini im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde auch dieser Bezirk zunehmend Wohn- und Arbeitsplatz für Jüdinnen und Juden, woran jedoch nach der gewaltsamen Vertreibung durch die NationalsozialistInnen oberflächlich nichts mehr erinnert.
Daher ist die Frage nach einem „Jüdischen Jakomini“, die dieser Rundgang stellt, zunächst auch eine Frage nach den Manifestationen, den Orten vergangenen jüdischen Lebens und in weiterer Folge die Suche nach den ausgelöschten, den überschriebenen Spuren dieses Lebens. Eine Suche, die, wie in dieser kleinen Broschüre sichtbar wird, durchaus erfolgreich verlaufen ist.
Gerald Lamprecht