ausgabe #87/88. lyrik. martin peichl
heimatkunde
(Auszug)
(1)
Ich bin wie ein Selbstbedienungsladen, sagt meine Lektorin, und greift in mich hinein, ich denke: nah und frisch.
(2)
Ich erzähle dir von Scheideldorf. In keinem anderen Ort im Waldviertel ertränken sich so viele Menschen im Löschteich. Im Internet findet man dazu keine Informationen, keine Berichte. Halb Scheideldorf hat sich im Löschteich ertränkt, aber niemand redet drüber.
(3)
Im Gymnasium hat uns der Direktor ein paar Wochen vor der Musterung Werbefilme vom Bundesheer gezeigt, die Alternative sei „OASCHAUSWISCHEN“ bei irgendwelchen Pensionisten und Pensionistinnen im Altersheim, so unser Direktor. Im selben Jahr hat unser Klassenvorstand einen Tagesausflug in die Tullner Kaserne organisiert, ich weiß noch, wie wir mit der ganzen Klassen Panzer gefahren sind, Lehrplanbezug: Heimatkunde
(4)
Wenn man „Balkanroute“ in die Google-Bildersuche eingibt, dann kommen viele bunte Landkarten. Und auf den Landkarten eingezeichnet: bunte Pfeile. Sie zeigen nur in eine Richtung.
(5)
Wenn ich mit meiner besten Freundin telefoniere, dann redet sie manchmal Kroatisch mit ihrer kleinen Tochter, die im Hintergrund spielt, die fragt, ob sie Schokolade haben darf. Das kroatische Wort für Schokolade klingt noch weicher als das deutsche, fast so wie mein Dialekt.
(6)
Es gibt die Landkarten und die mit dicken
Strichen eingezeichneten Grenzen. Es gibt meinen Finger, mit dem ich die
Grenzen entlangfahre oder mühelos von einem Land ins nächste. Es gibt die
Grenzen, aber wir haben sie erfunden.
Martin Peichl