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ausgabe #87/88. kolumne. jochim hainzl, eva ursprung

wortmülldeponie

ein zeitfenster schließt sich

 

Wer sich noch an die letzte Wortmülldeponie erinnert, der/die weiß, dass es genug Zukunftsängste gibt, die mich plagen. Nicht nur, wie es sich in den kommenden Jahren finanziell überleben lässt, sondern auch, wie dann auskommen mit einer sehr geringen Pension. Und dann, die Haare werden immer grauer, die einfachsten Wörter fangen an mir nicht einzufallen, die Fitness und das Körpergewicht zu halten, benötigt immer mehr an Anstrengungen. Und mein Zahnarzt freut sich über die Einnahmen aus meinen Behandlungskosten. Aber dennoch: Gerade in den letzten rund zehn bis fünfzehn Jahren wurde mir auch immer bewusster, dass ich zu den Privilegierten auf dieser Welt gehöre und für viele dieser Privilegien persönlich gar nichts tun musste.

a) Mein biologisches Geschlecht: Als Mann durch diese Welt zu gehen, hat definitiv Vorteile. Ich habe bisher so gut wie keine Situationen erlebt, in welchen ich mich sexuell bedrängt fühlte. Nur einmal, Mann sich plötzlich nahe hinter mich stellte und ich erst nach einiger Zeit verstand, worum es ihm ging. Wie oft hingegen höre ich, wer aller von klein auf als Mädchen und später als Frau welche negativen Erlebnisse hatte und wieviele Frauen sexuelle Gewalt erfahren mussten. Wenn ich mein biologisches Geschlecht zudem gezielt diversen sozialen Kontexten ausspielen würde, dann würden sich wohl auch da für mich noch weitere Türen öffnen, die Frauen von vornherein verschlossen bleiben.

b) Mein Geburtsort, meine Hautfarbe, mein Reisepass: Ich habe Reisefreiheit. Jawohl. Und mein Reisepass ist so stark, dass ich in vielen Ländern nicht einmal ein Visum benötige. Und wenn ich dann ankomme, in den „fremden“ Ländern, dann wird meiner Hautfarbe zumeist Positives zugeschrieben. Und in Österreich laufe ich damit bisher nicht Gefahr, Opfer von Maßnahmen des „Ethnic profilings“ zu werden. Das zeigte sich schon vor Jahren im Zug nach Wien, als Beamte in Zivil im Großraumabteil ganz zielgerecht alle kontrollierten, die eine dunklere Hautfarbe hatten. Ich musste mich richtig aufdrängen, ebenfalls kontrolliert zu werden. Und auf meine Frage, warum ich nicht, die anderen aber schon, antwortete man mir: weil ich „kaukasisch“ aussehen würde. Als ich kurz danach meine jetzige Frau kennenlernte, hätte ich mir niemals vorstellen können, wie hilflos ich mich fühlen würde, wenn sie nach Hause kommt und davon erzählt, wie sie wieder einmal auf den Grazer Straßen ein rassistisches Erlebnis gehabt hatte. Und nie werde ich diesen Augenblick vergessen, wie sie, am Ende des langwierigen Wegs zum Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, das Kuvert aufreißt, das der Briefträger brachte, und sie weinend-lachend ihren neuen Reisepass in den Händen hält. Maryam und ich haben ganz bewusst unsere persönliche „Love-Story“ bei <rotor> - Zentrum für zeitgenössische Kunst präsentiert, um das für viele nicht Nachvollziehbare etwas verständlicher zu machen.

c) Österreich/Europa als mein Lebensmittelpunkt: Habt ihr euch schon mal die Lebenserwartungen weltweit angesehen? Ich mit meinen nicht ganz 51 Jahren habe schon beinahe die Lebenserwartung eines durchschnittlichen Afghanen oder Nigerianers erreicht. Das heißt, dass ich statistisch und im Durchschnitt betrachtet über zwei Jahrzehnte mehr Lebenszeit habe, als Menschen in diesen Ländern. Und dieser hohe Schnitt kommt neben besseren Lebensverhältnissen, einer besseren Gesundheitsversorgung und ökologisch vorteilhafteren Rahmenbedingungen auch dadurch zustande, dass mich nicht Kriege oder Krisen jung sterben ließen. Ich kann mich noch erinnern, wie unsere syrischen Freundinnen im Jahr 2009 Maryam bemitleideten, als im Iran gerade die „Grüne Bewegung“ niedergeschlagen wurde. Inzwischen sind diese Freundinnen selbst heimatlos geworden und versuchen inzwischen, nach Zwischenstationen in mehreren Ländern, in Europa Platz zu finden. Diese Kriege zerstören Leben und  Existenzen. Unter jenen, die sich in Europa in der Rolle hilfesuchender Bittsteller wiederfinden, gibt es auch jene, die sich in ihrer Heimat einen gewissen Wohlstand aufgebaut hatten und nun ganz von vorne anfangen müssen. So wie jener Syrer, der in seinem Geschäft hier in Graz traurig und stolz zugleich die Fotos zeigt von seinem schönen Haus in Damaskus, vor dem sein großes Auto parkt.

Und an der Situation unserer Familienmitglieder und FreundInnen im Iran kann ich ablesen, wie schnell sich Alltagssorgen steigern können. Es wird die Lebenssituation von Monat zu Monat dramatischer. Die Preise haben sich in nur wenigen Monaten verzehnfacht, die Löhne und Pensionen nicht. Jene unserer FreundInnen, die nach dem Atomabkommen vorsichtig Zukunftspläne geschmiedet hatten, leben nun schon seit Monaten im Krisenmodus und eine Veränderung zum Positiven ist nicht in Sicht. Auch nicht in Venezuela, wo eine andere Freundin ihre Familie zu Weihnachten besuchte und ihr Land und die Menschen kaum wiedererkannte.

d) Die Zeit, in der ich bisher lebte: Ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass ich in einer Zeit groß geworden bin und als Student in einer Zeit studiert habe, in der es noch mehr an sozialer und (in gewissen Bereichen) mehr gesellschaftlicher Offenheit gab. Es scheint mir beinahe so, als ob sich ein Zeitfenster zu schließen beginnt, in dem man die Chance gehabt hätte, gegen Rassismen und Diskriminierungen noch effektiver vorzugehen. Jetzt ist der Rechtspopulismus nicht mehr im Kommen. Er ist in immer mehr europäischen Ländern an der Macht und wird auch in unserem Land das Klima des Zusammenlebens, der Solidarität und der gesellschaftlichen Vielfalt nachhaltig verschlechtern. Fortschrittliche gesellschaftliche Projekte werden abmontiert und Uhren zurück gedreht. Dazu gehört aber auch ein Wiedererstarken intoleranter ReligionsanhängerInnen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, welche dem säkulären Staat an die Gurgel wollen.

e) In früheren Jahren habe ich nie verstanden, wenn man jemandem „Gesundheit“ gewünscht hatte, zum Geburtstag oder zum Neuen Jahr. Inzwischen aber, da einige viel zu jung gegangen sind, fühle ich mich von Jahr zu Jahr privilegierter. Und ja, dass ich bei Bedarf auf familiäre Unterstützung zurückgreifen könnte und dass ich zahlreiche Bereiche meines Lebens nach meinen individuellen Vorstellungen leben kann, das sind Privilegien, die viele auf dieser Welt nicht in Anspruch nehmen können.

f) Außerdem ist es schon ein Luxus, dass ich meinen Leidenschaften nachgehen kann und Menschen mich dafür nicht für verrückt halten, sondern mich oft sogar noch dabei unterstützen.


Dinner am Abgrund

Privilegiert bin auch ich. Obwohl ich eine Frau bin und, in „bildungsferner Schicht“ aufgewachsen, bin ich noch immer eine weiße Frau in einem der reichsten Länder Europas. Ebenfalls in einer Zeit groß geworden, in der gleiche Chancen für alle proklamiert wurden, kam ich in den Genuss einer Schulbildung, die mir andere Denkmodelle und Lebensmodelle ermöglichten, als sie sich meine Eltern vorstellen konnten. Noch vor 100 Jahren war es Frauen nicht möglich, zu wählen oder zu studieren. Und bald wird es für Kinder aus finanzschwachen Familien nicht mehr möglich sein, eine höhere Schule oder gar eine Universität zu besuchen.

Auch ich habe das Gefühl, dass wir bisher in einem winzigen Zeitfenster der vielen Möglichkeiten gelebt haben. Die Generation vor uns war vom Krieg und der voran gegangenen Diktatur geprägt, und die nach uns erstickt in den Leistungszwängen des Kapitalismus – unter der Prämisse, dass allen Tüchtigen in unserer Gesellschaft alle Möglichkeiten offen stehen.

Auch der steirische herbst beschäftigt sich dieses Jahr mit dem Widerspruch einer Gesellschaft, die im Wohlstand und im Vergleich zu anderen Regionen der Welt in unvorstellbarem Luxus lebt, sowie den Abgründen, die sich allerorts auftun.

Das diesjährige Thema Grand Hotel Abyss ist eine schlagende Metapher, die der Philosoph Georg Lukács prägte. Lukács beschrieb die europäische Szene der Intellektuellen und Kulturschaffenden als „ein schönes, mit allem Komfort ausgestattetes modernes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit.“ Nach außen stellt sich Graz und die umliegende Steiermark als Genussregion dar, als eine der Blasen, die in Zeiten zunehmender Ungleichheit entstehen, wo das Lob traditioneller Erzeugnisse beängstigende, kryptonationalistische Untertöne hat und der Abgrund der radikalen gesellschaftlichen Exklusion, der Wirtschaftskrise sowie des entfesselten militärischen Konflikts lauert und in Zeitlupengeschwindigkeit näherkommt. (Vgl. Programmtext des steirischen herbst).

Die Kunst spielte in der Geschichte oft eine Vorreiterinnenrolle für gesellschaftliche Veränderungen, wies auf bedenkliche Entwicklungen hin und zeigte alternative Denkmodelle auf. Im Moment scheint die Herausforderung zu sein, an einer Erhaltung der bestehenden sozialen Errungenschaften und einer Weltoffenheit mitzuarbeiten, die im Moment mehr und mehr zurückgebaut werden auf eine Zeit, in der Universitätsstudium, Recht auf freie Meinungsäußerung, Kranken- und Altersversorgung und soziale Sicherheit Privilegien eines kleinen Kreises der Gesellschaft waren.

Nicht zufällig geraten zunehmend Kulturinstitutionen, die in einer Zeit des intellektuellen Aufbruchs entstanden oder in diesem Geist aktiv sind, unter Beschuss. Aber auch Projekte zur Unterstützung der in unserer Wohlstandsgesellschaft steigenden Anzahl von Menschen, die durch die immer größeren Löcher im immer unsichereren sozialen Netzes fallen, wie z. B. die in den vergangenen Jahren entstandenen Stadtteilzentren in sozialen Brennpunkten wie der Triestersiedlung, sollen nun nicht mehr finanziert werden. Dieser Rückbau der sozialen Solidarität lässt nun viele Menschen mit profunden Problemen auf sich allein gestellt. In einer Gesellschaft, in der zunehmend auch der Anspruch auf eine Gemeindewohnung zum Privileg gemacht wird. Jochim Hainzl & Eva Ursprung

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