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ausreißer - die grazer wandzeitung

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You are here: Home Ausgaben 89 | Juli/Aug 19 briefe an die lebenden

ausgabe #89. bericht. evelyn schalk

Briefe an die Lebenden


caro carlo,

es war hier. dieser platz. diese straßen. unter der brennenden julisonne von genova. ich sehe dein bild und wie damals kommen noch immer die wut und die tränen in mir hoch. plötzlich war der schleier weg, die camouflage, die heile oberfläche. plötzlich wurde offenbar, was alle wussten und beharrlich ignorierten. eine ignoranz, die ich bis heute nicht realisieren kann und die dieselbe geblieben ist. in aller sichtbarkeit.

dein körper am boden, ungeschützt, dünn, zerbrechlich. das blut am asphalt. die stiefel, die uniformen, die schwaden von tränengas. die schreie.

ich blicke auf den schlichten weissen stein auf der kleinen rasenfläche in der mitte des platzes. carlo giuliani ragazzo. 20. luglio 2001. jemand hat einen halb verblassten brief davor gelegt, daneben eine rote blume. ich spüre die blicke aus den fenstern, den umliegenden cafés.

die schuhe am beton, die vibration. ich fühle meine eigenen schritte, erinnere die worte und ihre bewegung. es waren und sind dieselben.

ich habe die route vom zentrum hierher gesucht, nachgezeichnet, die linie gezogen.

ein stück weiter lese ich am boden: a fianco di chi lotta.

seite an seite mit denen, die weiterkämpfen.

dein tod, dieser mord, musste niemandem die augen öffnen, wir hatten sie längst weit aufgerissen.

in den schlagzeilen danach, in den rechtfertigungen und lügen und brutalitäten, haben sie die schüsse noch einmal abgefeuert. und seither immer wieder. wir stehen noch immer auf der piazza alimonda. vom meer her dringen die lautlosen schreie der ertrunkenen und quer durch europa ziehen sich zäune und mauern, deren bau an jenem juliabend begann, als sie das zentrum von genova abriegelten, in zonen der macht unterteilten, für die bewohner*innen zum sperrgebiet erklärten und grenzübertritte mit waffeneinsatz beantworteten. sie selbst haben dabei jede grenze überschritten.

du warst 23 jahre alt, als dich der erste der beiden schüsse tödlich traf. du warst 23 jahre alt, als das auto der carabinieri noch zweimal über deine leiche fuhr. du warst 23 jahre alt, als du ermordet wurdest, zur sicherung der verhältnisse. notwehr und freispruch lauteten später die konsequenzen für die mit den waffen in den händen. deine konsequenz war dein leben.

Ognuno di noi deve dare qualcosa, per fare in modo che alcuni di noi non siano costretti a dare tutto.

Jeder von uns muss etwas geben, damit niemand von uns gezwungen ist, alles zu geben.

ich lese die zeilen in der via fontane, im zentrum. im herzen.

es geht weiter.

ci vediamo!


Evelyn Schalk


literaturempfehlung: carlo vive. g8, genua 2001. francesco barilli, manuel de carli. bahoe books, wien 2016.
Erstpublikation am 20.Juli 2019 auf 
https://tatsachen.at


 

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