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ausgabe #91. prosa. alida bremer

geranien und andere blumen


1. Im Theaterstück der Belgrader Autorin Iva Brdar „Geranien werden alles überleben“ taucht in einer Szene ein Mann auf, der in einem heruntergekommenen Hochhaus seine Wohnung mit Messing und Marmor ausgestattet hat, an den Decken aufwendige Stuckarbeiten, auf dem Boden weiche Teppiche. Damit die Wohnung größer wird als die anderen Wohnungen in diesem Hochhaus, hat der Mann sie um den einst gemeinsamen Wäscheraum und um eine weitere Wohnung, die er nach dem Tod einer alten Frau günstig gekauft hat, erweitert – zum Glück konnte man die Trennwände entfernen, da es keine tragenden Wände waren, so erklärte er es der Nachbarin, die in einer viel bescheideneren Wohnung einige Etagen höher lebt.
Das Hochhaus befindet sich am Rande der Stadt, in der Nähe des Flughafens, und es wurde in jenen besseren Zeiten erbaut, als man noch an die Zukunft glaubte. Für die Beschreibung dieses Mannes und seiner Wohnung benötigt die Autorin nur einige Zeilen in einer kargen, knappen Sprache, aber aus ihnen spricht das ganze Elend des heutigen Serbiens. Die Nachbarin wundert sich, warum „ein Mann wie Sie“ noch in diesem schäbigen Hochhaus lebt, da er sich bestimmt etwas Besseres leisten könnte, aber er erklärt ihr, dass er sentimental mit diesem Hochhaus verbunden sei.
Im Messing und im Marmor seiner Wohnung spiegelt sich die traurige Bilanz der serbischen Wende: Der kleinbürgerliche Kitsch mit der hohlen Symbolik eines fragwürdigen Wohlstands wird zum Sinnbild des geistigen Zustands einer ganzen Epoche. Während der erfolgreiche Nachbar überlegt, wie er eine weitere Wohnung dazu kaufen könnte, wird eine junge Frau sexuell belästigt und stirbt, ein junger Mann wird verrückt, es fliegen Flugzeuge über das Hochhaus und bringen verzweifelte Menschen fort aus dem verwahrlosten Land. Am Ende scheinen nur die Geranien zu überleben – die widerstandsfähigen, aber übelriechenden Blumen der Armen.
Für ihr Stück wurde die Autorin mit dem Preis der Heartefact Stiftung für das beste engagierte Theaterstück des Jahres 2019 in Südosteuropa ausgezeichnet.

2. Eine nachhaltige Diskussion über Literatur und politisches Engagement wurde in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Südosteuropa von Miroslav Krleža vorangetrieben. Krleža – ein pessimistischer, wortgewaltiger und bisweilen misanthropischer Autor, ein Linker, der die Klein- und Großbürger aus seiner Umgebung besser kannte als irgendein anderer – glaubte, dass jede wahre Literatur der conditio humana verpflichtet sein müsse. Und der Schönheit – er schrieb eindringlich von der metaphysischen Schönheit der Kunst.
Auch heute noch lohnt es sich, seine polemischen Texte zu lesen, denn sie kreisen um die immer aktuelle Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen. Ich glaube, dass das Stück von Iva Brdar ihm gefallen, und dass es seine Kriterien für engagierte Literatur erfüllen würde.
Seine Haltung brachte ihm einen lang andauernden Streit mit anderen linksgesinnten Intellektuellen jener Zeit ein, die ihn beschuldigten, eine bürgerliche und somit reaktionäre Ästhetik zu befürworten, doch er blieb in seinen leidenschaftlichen Plädoyers für die Freiheit der Kunst unnachgiebig – auch dann, als ihn der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens und der spätere Präsident des Landes Josip Broz Tito höchstpersönlich wegen dieser Haltung kritisierte. Einen krönenden Abschluss fand diese Diskussion im Jahr 1952, als Krleža seine berühmte Rede auf dem Schriftstellerkongress Jugoslawiens hielt, die nach allgemeiner Auffassung die jugoslawischen Literaturen und Künste vor der normativen Poetik des Sozrealismus bewahrt hat. Nach mehr als zwanzig Jahren setzte sich bei diesem Kongress seine Überzeugung durch, dass das Engagement in der Literatur nur dann wirkungsvoll sei, wenn zuerst das Künstlerische überzeuge. Nur dann, wenn es sich um wahre Kunst handele, offenbare sich die politische Botschaft, und dies geschehe auf einer ganz anderen Ebene, als die Parteiprogramme es von den Künstlern verlangten.
In seinem Werk verwendet Krleža häufig das Mittel der Ironie, die allzu eindeutige Botschaften in ambivalente Aussagen und Bilder verwandelt. In seinem Gedicht „Auch bei den Blumen gibt es keine Gerechtigkeit“ beneidet der Wegerich das Veilchen, weil es viel besser rieche, und er beklagt sich ob der Ungerechtigkeit, die ihm und ähnlichen Unkrautarten angetan werde: Während ihn irgendwo in einem Feld jederzeit ein stinkender Kuhfladen treffen könne, duften die Rosen in geschützten Gärten vor sich hin und ähneln dabei vornehmen Admirälen. Auch wenn das ganze Gedicht von der sozialen Ungleichheit der Blumen spricht, ist es bar jeder selbstgefälligen Verbitterung – ganz im Gegenteil, der arme stinkende Wegerich, der eigentlich zu Recht seine niedrige Stellung beklagt, wirkt zugleich doch ein wenig lächerlich, als stünde ein etwas tölpelhafter Bauernjunge vor einer vornehmen Herrschaft aus der Stadt.

3. Die Diskussion, die in Deutschland um das Gedicht avenidas von Eugen Gomringer geführt wurde, drehte sich nicht um die Frage des Engagements der Literatur, sondern um die Frage des Rechts der LeserInnen auf eine Interpretation, die politischer Natur ist, eigentlich auf das Recht der LeserInnen auf Engagement.
Eines der wichtigsten Argumente, mit dem den LeserInnen dieses Recht abgesprochen wurde, war die für sakrosankt erklärte Person des Künstlers bzw. die für heilig erklärte Freiheit der Kunst. Die Kunst, so diese Behauptungen, sei über jede Kritik ihrer Bedeutung erhaben. Wenn ein Werk ästhetisch gefällt, dann sei es egal, welche Botschaft damit verbunden sei. Auch wenn sich jemand beim Lesen unwohl fühle und die Zeilen des Gedichts als sexistisch deute, dürfe er oder sie dieses Gefühl nicht vortragen, da man damit die Kunst einschränke und auf nur einen Aspekt der Bedeutung reduziere. Wenn jemand dieses Gedicht als sexistisch lese, dann verstehe er oder sie die Funktion der Kunst falsch. Die Kunst sei dafür da, sich jede Freiheit zu erlauben, auch jene, sexistisch zu sein. Die RezipientInnen, die sich von einem Gedicht unangenehm angesprochen fühlen, müssen dieses Gedicht dennoch aushalten, denn die wahre Kunst sei ein Produkt der künstlerischen Genialität und damit über jede Kritik erhaben.
Diese Argumentation stellt eine Umkehrung der These über die Freiheit der Kunst dar, wie sie von Krleža vertreten wurde. Während er kein Außendiktat für die Inhalte der Kunst dulden wollte, wird in dieser Argumentation nicht geduldet, dass Kunst frei interpretiert wird. Krleža verlangt, dass der engagierte Künstler zuerst ein ästhetisch hochwertiges Werk schaffen müsse, wenn er wolle, dass man sein politisches Engagement ernst nimmt. Die Verteidiger von Gomringers Gedicht behaupten, dass das Werk einen hohen Wert an sich habe, den man nicht hinterfragen dürfe, und dass jedes politische Engagement, das diesen Wert in Frage stellt, nicht zulässig sei.
Als ich die Debatte um den admirador, der mit seinen Augen wahllos die Straßen, die Blumen und die Frauen bewundert, etwas genauer untersuchen wollte, konnte ich im Internet kaum einen Text finden, der sich auf die Seite der Schülerinnen der Alice-
Salomon-Hochschule geschlagen hätte, so dass man eigentlich nicht von einer Debatte sprechen kann. Auf der einen Seite stand in dieser Auseinandersetzung die Schule, die mit hasserfüllten Botschaften überschüttet wurde, auf der anderen Seite eine aufgebrachte und empörte Öffentlichkeit, die darum wetteiferte, wer im Namen der Autonomie der Kunst den Studentinnen das Recht auf ihre Interpretation in der härtesten Form abzusprechen vermochte. Autorinnen und Autoren von Zeitungsartikeln und diverser Online- und Blogbeiträge überschlugen sich unisono in der Verteidigung der künstlerischen Freiheit vor einer angeblich übermächtigen feministischen politischen Korrektheit. Die Vehemenz, mit der in diesem Fall der Feminismus im Namen der Kunst angeprangert und verteufelt wurde, erschreckte mich.

4. Krleža behauptet, dass politische Botschaften in schlecht geschriebenen Texten wertlos seien. Die Verteidiger Gomringers behaupten, dass politische Lesarten eines gut geschriebenen Textes unzulässig seien. Sowohl Krleža wie auch Gomringer und seine Befürworter berufen sich auf die Freiheit der Kunst. Krleža behauptet, die Kunst sei wichtiger als die politischen Ansichten des Künstlers. Die Rezipienten werden diese nur dann beachten, wenn sie in einem gelungenen Kunstwerk vorgebracht wurden. Gomringers Befürworter behaupten, die Kunst sei wichtiger als die politischen Ansichten der Rezipienten. Ob die Rezipienten die Ansichten des Künstlers akzeptieren, sei unerheblich.

5. Blumen blühen überall. Aber auch bei ihnen gibt es keine Gerechtigkeit. Einige sind wohlriechender als andere. Einige erinnern in ihrer Schönheit den einen oder anderen admirador an Frauen. Nur die Geranien überleben alles.


Alida Bremer

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