ausgabe #92. essay. evelyn schalk
nicht aufhören
der anfang vom anfang
es beginnt mit einem schweigen. es beginnt mit einer drehung des kopfes,
einem abwenden des blicks. mit dem überhören des gesagten. es beginnt mit dem
verwischen der meldung am display, dem wechseln des kanals, dem switch zum
nächsten posting. es fängt an mit dem ausblenden der worte, dem umlenken der
gedanken, dem zulassen der verdrängung, der ignoranz des bohrenden widerhakens,
innen und außen. der erste schritt ist der, der zurückweicht, der zweite
schlägt einen weiten bogen und beim dritten ist das ausholen zum tritt nicht
mehr weit. wenn die augen über die zahlen fliegen und die seite umschlagen,
wenn das schlucken aufhört bei den bildern oder es damit schon getan ist, wenn
die schultern zucken, erst einmal, dann reflexhaft, wenn das unbehagen durch
pointen ersetzt und statt widerspruch das thema gewechselt wird, immer
geschmeidiger, dann hat es schon lange begonnen.
der anfang vom aufhören
mit dem ersten ja, aber ist es da, beim folgenden reg dich nicht auf und beim nächsten sei doch nicht so empfindlich ist es ganz rasch bei das musst du eben aushalten und es geht nahtlos über von du solltest niemand ausschließen zu das ist eben auch eine meinung von wo es in man muss mit allen reden mündet und sich festsetzt festbeißt festkrallt in jedem gespräch in jeder diskussion auf jedem podium in jeder talkshow in den ach so seriösen analysen in den pro & contra kommentarspalten in den fetten schlagzeilen und den qualitätstitelseiten – der anfang ist dort: wo es aufhört. das hinsehen, das nein-sagen, das widersprechen, das nachdenken, das einfühlen, das sich zeit nehmen, das erinnern, das da sein, das beschützen, das aufstehen, das aufschreien, das sich einsetzen, das entgegensetzen, das nicht hinnehmen, das nicht akzeptieren des inakzeptablen, das an- und aussprechen, das beharren, immer wieder, die klarheit, das durchhalten, die empörung, der schmerz, die wut, der verunmöglichte blick in den spiegel, das wissen warum, das ziehen der roten linie und ihre unabdingbarkeit.
nach dem anfang
sie ist die grenze, zwischen freiheit und
unfreiheit, demokratie und diktatur, ihre überschreitung erfolgt wortweise und
satztauglich, und jedesmal ist das loch größer, das gerissen wird und
schmerzhafter und nachhaltiger und schwerer zu reparieren. aus leid wird
propaganda, aus abstumpfung gesetz, aus ignoranz gewalt, institutionell,
industriell, fatal.
erst wenn der anfang längst vorbei ist,
wird er möglich, dieser schritt über die rote linie, und aus dem schritt wird
ein marsch – der leugnung, der legitimation, der normalisierung, der
widerspruchslosigkeit. der abwesenheit von empathie im stechschritt.
es ist dieser turning point jenseits des anfangs, an dem die warnlichter der geschichte und der gegenwart laut blinkend rotieren.
neubeginn – some call it revolution
die entscheidung fällt jedes mal aufs
neue, wie sich die spirale der geschichte und des nächsten tages weiter dreht,
wohin und ob. nichts ist, nichts bleibt ohne diese entscheidung jeder*s
einzelnen, immer wieder.
nur im beenden dieses anfangs, dieses
aufhörens, liegt die möglichkeit des neubeginn – some call it revolution.
einige auch nur leben jenseits von über.
es beginnt wort für wort, es beginnt mit
der bedingungslosigkeit des widerspruchs, es beginnt mit der tatsächlichen
verlässlichkeit des gemeinsamen.
die revolution scheitert an der einsamkeit
der revolutionäre. an der selbst gewählten großen heldenstory und an der
distanz, die auf worte, schulterklopfen und ein paar likes mehr folgt.
aber sie gelingt in der entschiedenen
verbindlichkeit des alltags ebenso wie in der mutigen geste auf öffentlicher
bühne und ihrer bewegungsmacht.
es beginnt mit der unabdingbarkeit und es beginnt mit dem nicht aufhören.
Evelyn Schalk
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