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ausgabe #48. prosa. mario hladicz

das geschwappe

Eine kleine Lächerlichkeit

 

Die Regenfälle kamen gerade recht. Ich hörte von der Meldung, dass der Pegelstand der Mur einen neuen Höchstwert erreicht hätte. Rasch zog ich mich an und machte mich auf den Weg. Seit einiger Zeit stand mein Inneres sozusagen auf Kriegsfuß mit mir. Tagelang war ich durch meine Wohnung gewandert, in der Hoffnung, Klarheit über meinen Zustand zu erhalten. Ich dachte: Wie viele sind beim Gehen schon auf Entscheidendes gestoßen! Doch natürlich fiel mir in meinem Zimmer keine Erkenntnis zu. Nun also hoffte ich, dass mein undurchsichtiger Zustand im Beisein eines reißenden Flusses an Ausdruck gewinnen möge. Schon von weitem hörte ich ein wildes Rauschen, das sich, so dachte ich in diesem Moment, mit dem Rauschen meiner inneren Vorgänge hervorragend verstehen würde. Tatsächlich war die Mur zu einem wässrigen Ungetüm mutiert. Sie wälzte sich als brausende braune Suppe durch die Stadt und riss allerhand Treibgut mit sich fort. An einigen Stellen war der Fluss schon über die Ufer getreten und strahlte dadurch eine leichte Gefahr aus. Ich stellte mich wie viele andere Schaulustige auf eine Brücke und beobachtete die Wassermassen einmal für ein paar Minuten aus der Richtung, aus der sie kamen, dann aus der Richtung, in die sie zogen. Still wartete ich, dass sich mir beim Betrachten des Hochwassers ebenso hohe Einsichten über mein Inneres zeigten. Es gefiel mir gut, dass das unbändige Rauschen des Wassers (endlich) das Dröhnen des Verkehrs übertönte und auch die aufgeregten Gespräche der Umstehenden nicht bis zu mir drangen. Viele fotografierten das Ereignis, einige deuteten zu dieser oder jener Stelle, eine junge Frau tröstete ein weinendes Kind. Bei diesem Anblick machte ich den ersten Versuch, meinen Zustand sprachlich festzumachen. Es sollte ein zuversichtlicher Ansatz sein. Ich sagte mir: Du bist ein fortgerissenes Stück Holz (ein heimatloser Mensch), der auf einem reißenden Fluss (dem undeutlichen Leben) in ruhigere Gefilde (ein sanfteres Dasein) treibt. Schnell befand ich den Satz als misslungen. Aus lauter Schreck über das von mir hervorgebrachte Pathos musste ich mich sogar kurz am Brückengeländer festhalten. Dabei zog ein schwacher Schmerz durch meinen rechten Arm. Mittlerweile versammelten sich zahlreiche Einsatzkräfte am Murufer. Drei Männer stellten sich in Wathosen an den Flussrand und sahen ratlos auf die Strömung. Da kam mir eine Kindheitserinnerung. Als kleiner Bub war ich oft mit meiner Mutter zu einem nahegelegenen Bach gegangen, in den ich mich mit Gummistiefeln stellte. Stundenlang hatte ich darin zu schaffen; ich ordnete Steine zu einem Damm, ich suchte nach tierischen Flussbewohnern, ich ließ kleine Plastikboote ein Stück den Bach entlangschippern. Mutter winkte mir vom Ufer aus traurig zu. Einmal entwischte mir ein Boot, es wurde von einer Strömung erfasst und trieb unaufhaltsam in Richtung Meer davon. Panisch lief ich ihm nach, doch in meinen Gummistiefeln, die sich schon mit Wasser füllten, war ich viel zu langsam. So musste ich dem Schiffchen heulend nachblicken, bis es verschwunden war. Dies war meine erstes starkes Verlust-Erlebnis. Durch die plötzliche Erinnerung löste sich in mir ebenso plötzlich ein zweiter Satz: Jede Besonderheit muss im Ozean der dahinplätschernden Bedeutungslosigkeit untergehen. Natürlich war ich auch mit diesem Satz nicht einverstanden. Immer mehr Schaulustige versammelten sich nun auf der Brücke. Ihre bunten Regenschirme rissen mich aus meiner grauen Wortsuche. Waren auch sie womöglich alle auf der Suche nach einem Ausdruck für ihr Leben? Waren meine Versuche einer Zustandsbeschreibung etwas ganz und gar Banal-Alltägliches? Würde der neben mir stehende Mann, der sich gerade eine Kapuze über den Kopf zog, gleich einen viel treffenderen Satz aus dem Ärmel schütteln? Schon packte mich eine kleine Wut, die in dem Satz gipfelte: Du steckst nur in einer kleinen Extravaganz, die bald wieder fortschwappt. Da endlich schlug mir meine Lächerlichkeit entgegen wie die Wellen an die Kaimauer. Ständig diese hemmungslose Klügelei! Mir war klar, dass ich als lächerlich Gewordener die Suche nach den richtigen Worten abzubrechen hatte. Schnellen Schrittes verließ ich den Flussbereich und den Stadtkern. Beim Gehen stieg ich gleich in mehrere Pfützen hintereinander. Das Unglück ließ sich nicht beschreiben, nur stumm durchwaten.


Mario Hladicz

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