ausgabe #78. interview. ulrike freitag
die feministin, das unbekannte wesen
Erfahrungen und Gedanken zu Feminismus. Interview mit Seunghwa Yu, Melodie Semedo und Cennet Süzme
Im Sommer 2017 twitterte Teresa Havlicek, eine der Mitinitiatorinnen des Frauenvolksbegehrens, das in Österreich derzeit in Vorbereitung ist (1), sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber ihre Eltern seien gefragt worden, warum sie Männer denn so hasse (2). Das Wort Feminismus erweckt oftmals Aversionen. Es ist im Sprachgebrauch negativ konnotiert, sogar viele Frauen finden es „peinlich“, was „so Feminist/innen“ machen. Doch was machen sie eigentlich? Oder – eine etwas leichtere Frage – wer bezeichnet sich heute als Feministin und wie und wo leben sie? Und wie erleben sie öffentlichen Raum oder politische Veränderungen?
Seunghwa Yu (23, Seoul), Melodie Semedo (21, Paris) und Cennet Süzme (22, Ankara) saßen im Sommersemester 2017 als internationale Studierende in einem Kurs über Feminismus an der Karl-Franzens-Universität Graz, wo sie gemeinsam ein Referat über „Women seen in public“ hielten. Alle drei keine Philosophiestudentinnen an der Heimat-Uni, nutzten sie die Gelegenheit des Auslandssemesters, um sich auch mit feministischen Themen auseinanderzusetzen. Im Gespräch erzählen sie von Rollenbildern, die ihnen aufgedrängt werden, von der Bedeutung, für sich selbst zu entscheiden und vor der Angst der Menschen vor Übergriffen, Attentaten – und starken Frauen.
Street Harassment
Spätestens seit dem Video der Aktivist/innen-Plattform Hollaback (3), das zeigt, wie die Schauspielerin Shoshana Roberts durch New York spaziert und welchen vielfältigen Belästigungen sie dabei ausgesetzt ist (4), ist Street Harassment auch hierzulande Thema. Und es ist etwas, das alle drei Studentinnen ebenfalls selbst erleben: in Graz genauso wie in den jeweiligen Herkunftsstädten. „Vor einiger Zeit hatte ich einen Unfall mit dem Fahrrad hier in Graz“, berichtet Cennet Süzme, „ich hatte eine Verletzung am Kopf und mein halbes Gesicht war voller Blut. Natürlich wollte ich einfach schnell nach Hause fahren, um mich zu verarzten. Doch während ich losfuhr, kamen schon die ersten Sprüche: ‚Warum fährst du denn ganz alleine nachhause?‘ oder ‚Hey, kann ich mit dir mitkommen?‘. Nach einem Unfall. Und ich war voller Blut – ich konnte es kaum fassen! So etwas höre ich jeden Abend am Heimweg, egal ob es acht, elf oder ein Uhr ist.“ (5) Eine Erfahrung, die die anderen zwei, genauso wie viele junge Frauen in Österreich teilen. Barbara Reiter, die Leiterin der Lehrveranstaltung „Feminist Ethics“, an dem die Studentinnen teilnahmen, erklärt, dass dieses Verhalten teilweise noch aus dem 19. Jahrhundert stammt, einer Zeit, in der die einzigen Frauen, die ein sichtbares öffentliches Leben führten, Prostituierte waren. Der Blick auf die Frau im öffentlichen Raum war stets sexualisiert und das wirkt nach. Vielen ist nicht bewusst, welche – positiv formuliert – Herausforderungen im täglichen Leben auf Frauen zukommen, mit denen Männer wohl eher selten zu kämpfen haben.
Cope Mechanismen
Melodie Semedo erzählt, dass auch sie dieselbe Erfahrung in Paris gemacht habe. Im Zuge ihrer Recherche für den Kurs in Graz sei sie dabei auf eine interessante Taktik junger Pariserinnen gestoßen: Masculinisation. Damit wird das Phänomen beschrieben – analog zur biologischen oder medizinischen Verwendung des Begriffs –, wenn Frauen sich im öffentlichen Raum anziehen und verhalten wie Männer, um sich sicherer zu fühlen. „Sie ziehen Hoodies an und ziehen die Kapuze ins Gesicht. Sie versuchen wie Männer zu wirken, um nicht belästigt zu werden. Es ist immer jemand auf der Straße, der dir etwas nachruft …“.
„Mädchen wollen nicht verletzt werden“ zitiert die Philosophin Reiter einen Satz Yus während des Seminars. „Ich fand das sehr berührend. Frauen werden oft mit Sprüchen über ihre Körper, über ihr Aussehen verletzt. Das ist besonders für junge Frauen schwer. Sie trainieren, machen Diäten, um nicht so leicht verletzbar zu sein.“
Auch das ist ein Bewältigungsmechanismus, mit dem Stress, dem Frauen in der Gesellschaft ausgesetzt sind, umzugehen. „In Österreich ist es besser“ sagt Yu, „wenn ich hier kein Make-up trage, fällt es niemandem auf. In Seoul werde ich bereits in der U-Bahn darauf angesprochen.“ Und sie meint, es würde schlimmer werden. Immer mehr Mädchen schminken sich schon in der Volksschule regelmäßig, um keinem Spott ausgesetzt zu sein. Sie sieht die Schuld darin auch in den Medien. „Die Stars im koreanischen Fernsehen sind so dünn. Richtig, richtig dünn. Und alle wollen sein wie sie. Aber gerade, wenn man jung ist, hat man noch nicht das nötige Selbstbewusstsein, damit umzugehen, dass das eigene Aussehen ständig beurteilt wird.“ Auch Schönheitsoperationen nehmen in Südkorea zu. Wie stark der Druck ist, schön zu sein, möchte sie an einem Beispiel deutlich machen. Eine ihrer Freundinnen sei sogar von ihrem Vater dazu gedrängt worden, erzählt sie und wirkt geschockt. „Er wollte, dass seine Tochter hübsch ist. Ich meine, er ist ihr Vater! Wie kann er nur? So etwas kommt öfter vor: die Frauen sollen hübsch, gebildet und sehr dünn sein. Sie sind Trophäen.“ Viele spielen das Spiel mit. „Es ist nicht ihre Schuld, sie wollen eben einfach nicht verletzt werden“.
Cennet Süzme setzt auf Gegenwehr. „Wenn Männer etwas Sexistisches sagen, gebe ich ihnen eine Warnung. Und das ist effektiv. Effektiver, als wenn ich etwas Aggressives antworten würde. Wenn man ihnen sagt: ‚Du bist so ein cleverer Kerl. Warum sagst du so etwas? Damit verkaufst du dich selbst als dumm‘, sind sie oft entrüstet. Aber manche von ihnen fangen dann an nachzudenken, ob es wirklich dumm ist, ob es falsch ist, was sie tun und sagen. Natürlich nicht alle, aber ich versuche, Bewusstsein für feministische Anliegen zu schaffen.“
Ein Schritt weiter
In Südkorea dringt Street Harassment von den Straßen in den privaten bzw. persönlichen Raum ein. Yu erzählt, dass der gängige (und fragwürdige) Trend in den letzten Jahren sneaking cams sind. Mit versteckten Kameras oder Mini-Kameras werden Frauen gefilmt: auf der Toilette, im Umkleideraum oder sogar in der eignen Wohnung. Diese Videos werden dann im Internet geteilt und von einer Fangemeinde kommentiert. Es gibt sogar eigene camera hunting squats in Seoul, die öffentliche Toiletten auf Kameras überprüfen, so sehr hat dieses Phänomen bereits überhandgenommen. (6) Die Privatsphäre scheint nirgends mehr geschützt. Bekannt wurde dies auch in Europa über einen entsprechenden Skandal beim olympischen Schwimmteam Südkoreas, der Konsequenzen nach sich zog (7). Die Schwimmer hatten die Umkleide ihrer Teamkolleginnen mit einer spy cam ausgestattet. Verurteilungen wegen solcher Übergriffe sind jedoch selten, meint Yu. Sie erzählt von einem Mädchen, dessen Freund eine Kamera in ihrer Wohnung installiert hatte und ihr Leben damit ins Internet streamte. Die Fangemeinde kommentierte jedes Detail an der Frau: zu kleine Brüste, ungeschminkt sei sie hässlich und zudem nicht dünn genug. Nachdem die Sache aufgeflogen war, verklagte sie ihn. Er bekam eine kleine Geldstrafe und stellte anschließend seiner Fangemeinde ihre Handynummer zur Verfügung, die davon ausgiebig Gebrauch machte, so Yu. Was die junge Südkoreanerin dabei am meisten aufregt ist, dass die Medien in ihrer Heimat stets eine Täter-Opfer-Umkehr betreiben.
Misogynie und Victim Blaming
Victim Blaming sei gang und gäbe, auch bei jenem Fall, der von den Medien besonders groß aufgegriffen wurde: dem sexistisch motivierten Hass-Verbrechen an einer jungen Frau in Gangnam im Mai 2016. (8) Der Täter wartete in der Toilette eines Lokals solange, bis eine Frau – irgendeine Frau – hereinkam und nahm ihr das Leben. Als Motivation hat er angegeben, dass Frauen ihn zu oft ignoriert hätten. Yu erzählt, dass die Medien später berichteten, er sei ein guter Student gewesen, der Theologe werden wollte. Und auch das Gericht stufte den Mord nicht als Hate Crime ein. Doch dieser Fall führte zu lang andauernden Protesten von Frauen, die schließlich auch die Regierung motivierten, gegen misogyne Verbrechen vorzugehen. Auch Yu nahm an den Protesten teil, die vorwiegend rund um eine U-Bahn-Haltestelle der Gangnam Station stattfanden. „Ich brachte ihr Blumen und hinterließ Nachrichten, wie auch viele meiner Freundinnen. Vor diesem Vorfall waren die Frauen in Korea sehr höflich und zurückhaltend. Bei den Trauer- und Protestveranstaltungen wurde dann jedoch öffentlich darüber gesprochen, welchem Druck sie in der Gesellschaft ausgesetzt sind.“ Die Gangnam Station Proteste wurde zu einem Symbol für Feminismus in Korea. Am Jahrestag des Mords fanden sich Tausende, vorwiegend junge Frauen, dort ein. Für viele wurde dies der erste Berührungspunkt mit Feminismus. (9)
Die Feministin, das unbekannte Wesen
„Viele Männer bei uns sagen, dass koreanische Frauenrechtlerinnen keine ‚echten‘ Feministinnen wären. Einfach so. Ich weiß, es ist dumm. Ich denke, sie wollen weder ihre Macht noch ihre Vorrechtstellung in der Gesellschaft aufgeben“, erzählt die junge Studentin Seunghwa Yu. Sie selbst will diesem Mansplaining (10) entgegenwirken. „Ich bezeichne mich immer als Feministin, sobald es zur Sprache kommt“, sagt sie stolz. Das stoße nicht immer auf Gegenliebe, vor allem, wenn sie das Verhalten anderer kritisiert. „Oft werde ich als ‚Bitch‘ beschimpft, wenn ich Leuten sage, sie verhalten sich dumm. Aber jemand muss es ihnen sagen!“ lacht sie. „Ich bin Feministin. Ich will mich nicht verstecken.“
Genauso sieht es auch Cennet Süzme „Ich bin stolz, sagen zu können, ‚Ich bin Feministin‘. Ich sage es, wann immer sich mir die Gelegenheit bietet.” Und sie sieht nicht nur stolz, sondern auch selbstbewusst aus, wenn sie es sagt. Auch ihr werde oft erklärt, was eine Feministin sei und was nicht, vornehmlich von Männern. „Wenn man kein Kleid trägt, heißt es ‚Du trägst das nicht, weil du eine Feministin bist‘, egal ob es draußen regnet. Viele Jungs haben schräge Ansichten darüber, was eine Feministin ausmacht. Sie glauben, du hasst Männer oder haben sonstige stereotype Vorstellungen. Aber du kannst alles sein, was du willst: sexy, zornig, hübsch, hässlich, neutral, nett und du bist immer eine Feministin.“ Sie meint, Männer müssen wissen und erfahren, wer, was und wie eine Feministin sein kann, um zu verstehen, dass es nicht darum geht, dass man Männer hasst. „Das ist manchmal schwer. Aber man muss es einfach leben.“
Pay Gap
Vielen Frauen fällt es schwer zu sagen, dass sie Feministinnen sind. „Wenn man es sagt, bekommt man oft negative Reaktionen“, meint Melodie Semedo. „Das Problem ist, dass die Definition nicht klar ist. Manche meinen, es geht um die Vorherrschaft der Frauen.“ Wenn man die junge Französin nach ihrer feministischen Perspektive fragt, wünscht sie sich Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Sie verwendet automatisch den französischen Begriff l'égalité dafür. Aber sie glaubt nicht, dass es jemals soweit kommen wird. „Vielleicht habe ich eine pessimistische Sicht. Aber ich kenne einige Männer, die der Meinung sind, dass Frauen nicht fair behandelt und bezahlt werden. Doch sie würden das nie laut sagen. Und das ist das Problem. Auch was die Gehälter von Frauen anbelangt. Männer fürchten, sie würden dann weniger bezahlt bekommen.“ Das sei der eigentliche Grund, warum Männer sich nicht für Frauenrechte einsetzen würden.
Die Zahlen zum sogenannten Gender Pay Gap, der Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern, scheinen der zielstrebigen jungen Frau Recht zu geben. Frankreich liegt in den europaweiten Statistiken der Eurostat dabei mit einem Wert von minus 15,8 % etwas unter dem europäischen Durchschnitt von 16,3 %, während Österreich mit einer Differenz von 21,7 % des Einkommens deutlich darüber liegt. (11) Nicht umsonst ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit eine der Forderungen des eingangs erwähnten Frauenvolksbegehrens. Laut der Heinrich-Böll-Stiftung gibt es in der Türkei bei einer Erwerbstätigen-Quote von 30,5 % ein Minus von 7,0 % bei den Gehältern von Frauen und Süd-Korea hat bei 41,6 % erwerbstätige Frauen eine Einkommensdifferenz von unglaublichen 36,0 %. (12)
Neben égalité steht eben doch noch fraternité.
Angst
Das Wort Feminist/in hat also für viele – nicht nur hierzulande – eine stark negative Konnotation. Yu war erstaunt, dass dies auch in Österreich so ist. „Ich dachte, das ist nur ein Problem in Korea“, gibt sie sich überrascht, „aber es ist hier dasselbe. Es ist überall dasselbe. Überall gibt es Street Harassment und überall sehen Menschen Feminismus als etwas Negatives an.“
Und doch hört man in Österreich oft, dass Feminismus gar nicht mehr nötig sei, weil es ohnehin schon Gleichberechtigung gäbe. Doch gleichzeitig ist da eine Bewegung hin zu einem als „traditionell“ bezeichnetem Geschlechterbild. Die Frau als das ewig Weibliche, als Mutter und zartes Wesen, das es zu beschützen gilt. Das Perfide an diesem Gedankengut ist, dass es versucht, dieses Frauenbild als modern und hip zu verkaufen. Gerade in Hinblick auf das konstruierte Feindbild der Einwanderer wird die Frau zum Symbol. Man will sie vor dem Fremden und vor der Unterdrückung „schützen“. Frauen werden so unter dem Deckmantel einer angeblichen Emanzipation für fremdenfeindliche Politik instrumentalisiert. Sie sind die „Pin-ups dieser Bewegung“, sie werden in den Sozialen Medien als jung, aktiv und dynamisch präsentiert. Aber inhaltlich ist es ein radikaler Antifeminismus, der transportiert wird. (13) Die neue Rechte bedient sich gerne der Angst der Menschen. Und besonders gläubige Musliminnen als sichtbare Trägerinnen einer fremden Kultur und Religion werden so oft zur Zielscheibe von Angriffen und gleichzeitig zum Symbol der Unterdrückung durch einen politischen und potentiell terroristischen Islam, so die argumentative Strategie der Rechten.
Auch in Frankreich hat sich das Leben an öffentlichen Orten nach den Terroranschlägen (14) verändert. „Die Leute sind misstrauischer geworden“, meint Melodie Semedo, die selbst in Paris lebt. „Sie haben begonnen, andere genauer zu beobachten, insbesondere Frauen, die Burkas oder ähnliche Kleidungsstücke tragen.“ Sie habe oft wahrgenommen, wie diese Frauen in der Metro behandelt werden. „Man sieht richtig, wie die Menschen auf sie herabblicken. Gleichzeitig haben sie offenkundig Angst vor ihnen.“
In ihrer Heimatstadt, die mehr ein Dorf wäre, meint Cennet Süzme, würde man nichts von dieser Angst der Menschen merken. Dort hätte man keine Furcht vor Anschlägen. Das sei aber in Ankara, wo sie studiert und lebt, anders. „Wir halten uns üblicherweise viel an öffentlichen Plätzen auf. Aber einige meiner Freunde haben völlig damit aufgehört.“ Sie aber wolle sich nicht zurückdrängen lassen, dann hätten diese Kräfte gewonnen. „Wir dürfen unsere Leben nicht selbst limitieren.“ Das gilt für Süzme für viele Bereiche. Ich frage sie nach der Aufforderung Bülent Arınçs, Regierungssprecher (AKP) und einer der Stellvertreter von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, der forderte, Frauen sollen in der Öffentlichkeit nicht laut lachen – nur eine der sexistischen Aussagen, die der Politiker in den letzten Jahren getätigt hat. Süzme lacht. Laut. „Es ist seltsam. Diese Leute sind nicht religiös. Sie benutzen Religion, in einem falschen Sinn. Sie versuchen, alles einzugrenzen.“ Sie ist außerdem überrascht, wie sehr sich die Österreicher/innen für die politische Situation in der Türkei interessieren und wie gut informiert alle seien. Aber es stört sie, dass Erdoğan als Repräsentationsfigur für alle Türk/innen verwendet wird. „Natürlich, er ist unser politisches Oberhaupt und dadurch beziehen sich viele Menschen auf ihn. Aber er ist einfach nicht repräsentativ für alle türkische Menschen.“ Auf die Frage, ob die politische Wende in der Türkei sich auch auf ihr Leben auswirkte, meint sie: „Nein.“ Süzme macht eine kurze Pause. „Gut, ja – manchmal. Aber ich schaffe mir mein eigenes Umfeld. An der Universität ist zudem vieles leichter und die Regeln und Umgangsformen dort sind andere. Es ist alles sehr politisch und viele nehmen an Protesten teil.“
Öffentlicher Raum
Im Grunde sei das Leben in den Städten modern und sie fühle sich sehr frei, erzählt die junge türkische Studentin und ihr selbstbewusstes Auftreten lässt kaum zu, etwas Anderes zu folgern, doch in Österreich nehme man oft an, sie habe zuhause in der Türkei keine Freiheiten. Es sei merkwürdig, meint sie, in der ersten Zeit in Österreich hätten die Leute gedacht, sie würde Arabisch sprechen und sie wurde gefragt, ob sie ihr Kopftuch nur hier nicht benutze oder ob sie auch in der Türkei ohne ginge. „Ich wurde auch oft gefragt, ob ich hier denn Spaß hätte. Was soll das? Ich bin sehr frei in der Türkei. Ich gehe jedes Wochenende aus. Es ist nicht so viel anders als hier. Aber die Menschen glauben das nicht. […] Dabei dauern die Nächte in der Türkei wesentlich länger als hier. Es ist schockierend, wie früh hier alle nachhause gehen“, lacht sie. Die kurzen Nächte und vor allem das fehlende Leben im öffentlichen Raum sind Dinge, die allen drei Frauen gleich nach ihrer Ankunft in Österreich aufgefallen sind. „In Paris sind die Straßen zu jeder Tages- und Nachtzeit voller Menschen“, meint Semedo und auch Yu war überrascht, dass ab dem frühen Abend so wenig los ist. Da es in Korea unüblich ist, sich zuhause zu treffen, seien auch dort Cafés und Straßen voller Menschen.
Vorbilder
Seunghwa Yu will selbst ein Vorbild sein und es anderen leichter machen, sich zu emanzipieren. „Ich möchte, dass jeder sich selbst als Feministin bezeichnen kann und so verhalte ich mich auch.“ Die zurückhaltende Semedo meint, dass vieles auch am Bild läge, das die Medien von Feministinnen zeichnen. „In den französischen Medien wird Feminismus oft als etwas Verrücktes dargestellt. Sie zeigen bei Demonstrationen oder Protestaktionen von Feministinnen immer jene Frauen, die sich auffällig verhalten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das muss man stoppen“, sagt sie bestimmt.
„Mädchen müssen stark sein und für sich selbst entscheiden“ sagt Süzme. Sie habe auch kein Role model, sondern spiele nach ihren eigenen Regeln. Sie und ihre Mutter seien zu unterschiedlich, als dass sie sie hätte als Vorbild nehmen könne. Also sei sie ihr eigenes geworden.
Vielleicht ist es aber auch genau das, worum es geht? Vorbild zu sein, indem man sein Leben verantwortungsvoll in die eignen Hände zu nimmt und selbstbewusst seine Rechte einfordert? So scheinen es zumindest die Eltern von Teresa Havlicek zu sehen. Diese kommentierten Fragen und Kommentare, wie das eingangs erwähnte „Warum sie Männer hasse“, über das Engagement ihrer Tochter für Frauenrechte nämlich mit schlicht mit „Gute Erziehung“. (15)
Ulrike Freitag
(1) Vgl. http://frauenvolksbegehren.at
(2) „Meine Eltern wurden ernsthaft gefragt warum ich Männer so hasse ich dachte das wär nur ein Klischee“ https://twitter.com/TeresaHavlicek/status/886646450301677568, 16.07.2017
(3) www.ihollaback.org/; vgl. www.youtube.com/watch?v=b1XGPvbWn0A
(4) Dazu zählen u. a.: Nachpfeifen, aggressives Anbaggern, stummes Verfolgen über Minuten hinweg sowie diverse sexuelle Anspielungen.
(5) Die Übersetzung des Interviews aus dem Englischen ins Deutsche stammt von der Autorin.
(6) Vgl. http://www.bbc.com/news/blogs-trending-37911695
(7) Vgl. „South Korea‘s swimming head coach quits over spy camera scandal“, in: The Guardian (online), 31.8.2016, www.theguardian.com/sport/2016/aug/31/south-korea-swimming-spy-camera-locker-room
(8) Dieser Fall wird auch als Seocho-dong public toilet murder case bezeichnet. Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Seocho-dong_public_toilet_murder_case
(9) Vgl. Seohoi Stephanie Park: „Murder at Gangnam Station: A Year Later“, in: Korea Expose. 18.5.2017. https://koreaexpose.com/murder-gangnam-station-year-later
(10) Portmanteauwort, bestehend aus „man“ und „explain“. Geprägt wurde der Begriff in der Debatte nach dem Erscheinen des Essays „Men Explain Things to me“ der amerikanischen Schriftstellerin Rebecca Solnit (vgl. Rebecca Solnit: Männer die mir die Welt erklären. btb: 2017).
(11) Vgl. Eurostat: http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=en&pcode=tsdsc340&plugin=1. Der nicht bereinigte Gender Pay Gap (GPG) stellt die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Bruttostundenlohn der männlich bezahlten Arbeitnehmer und der weiblichen bezahlten Arbeitnehmerinnen als Prozentsatz des durchschnittlichen Bruttostundenlohns der männlich bezahlten Arbeitnehmer dar.
(12) Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung: https://www.boell.de/de/infografik-gender-pay-gap-anteil-frauen-erwerbstaetige-g20-laender. Diese Einkommensdifferenz zeigt den prozentualen Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Bruttoverdienst pro Stunde von Männern und Frauen.
(13) „Frauen werden nur in den Sozialen Medien nach vorne geschoben, wo es um die Inszenierung von Bildern geht.“ Interview mit Politwissenschaftlerin und Aktivistin Natascha Strobl in: Mit den Waffen einer Frau. Die Strategien der neuen Rechten. ARTE, 2017. http://sites.arte.tv/re/de/video/re-mit-den-waffen-einer-frau.
(14) Dazu zählen unter anderem die Anschlagserie 2015, das Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo 2015 und die Amokfahrt an der Promenade des Anglais in Nizza 2016; vgl. u. a. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_islamistischer_Anschl%C3%A4ge_in_Frankreich
(15) „ˈGute Erziehungˈ haben sie stolz gesagt.” https://twitter.com/TeresaHavlicek.