ausgabe #58. prosa. gerlinde knaus
muße für alle
Hannah Haug sitzt an einem sonnigen Frühlingstag unter einer Platane und findet, dass Frauen viel mehr Muße haben sollten. Denn wer schuftet ist ein Schuft (Erich Kästner). Und wer fleißig die Muße pflegt, verwirklicht sich selbst.
Hannah Haug stellt ihr Fahrrad ab und versperrt es. Sie blickt kurz auf ihr Handy. Eine Armbanduhr trägt sie schon lange nicht mehr. Eine Uhr ist für ein Treffen wie dieses nützlich, aber sonst richtet sie sich so oft wie möglich nach ihrem inneren Rhythmus. Sie schaut in Richtung Homer und Aristoteles. Die beiden sitzen als Bronzestatuen der Zeit enthoben vor dem Eingang der Uni Freiburg im Breisgau. Passender könnte der Ort nicht sein, den die junge Wissenschafterin für ein Muße-Treffen ausgesucht hat. Denn für die alten Philosophen war die Muße der Inbegriff des Denkens und das Ziel des Lebens schlechthin. In der griechischen Antike galt die Muße (gr. schole, lat. otium) als eines der Fundamente unserer Kultur, so steht es schon im ersten Kapitel in der Metaphysik des Aristoteles geschrieben. Heute wird auf der Suche nach emanzipierten Lebensformen über die fast vergessene Muße wieder nachgedacht.
Hannah Haug kommt gemächlichen Schrittes auf mich zu. Mußekünstlerinnen haben einen Hang zum Understatement und bleiben lieber unerkannt. Sie „mußizieren“ vorzugsweise im Geheimen, weil sie keinesfalls bei den Verfechtern der Arbeitsideologie Neid wecken wollen. (Anm.: Es gibt in der deutschen Sprache kein entsprechendes Verb für die Muße – was als Hinweis für den kulturellen Mußeverlust gedeutet wird. Ursprünglich war „müssen“ das Verb, das aber im Laufe der Zeit einen zwanghaften Gehalt bekam. „Mußizieren“ ist eine Wortschöpfung von Mußekünstler und Kommunikations-Designer R. Kanis). „Daher will sie in diesem Text nicht unter ihrem wirklichen Namen auftreten, sondern unter dem Pseudonym „Hannah Haug“ – in Anlehnung an ihre Vorbilder Hannah Arendt und Frigga Haug. Selbstverständlich sind Mußekünstlerinnen, wenn sie unter sich sind, per Du. Wir beschließen, uns unter die Platane vor der Uni zu setzen.
„Wer nicht glücklich ist, hat keine Muße“
Auf meine Frage hin, ob sie heute schon Muße gehabt habe, antwortet Hannah Haug (geb. 1987) spontan mit einem „Ja“ und begeistert sprudelt es aus ihr heraus. Sie habe frühlingshafte, sonnige Picknickatmosphäre auf einem bioregionalen Markt genossen. Dabei habe dieser Samstag aufgrund der üblichen Wochenend-Erledigungen gar nicht so mußevoll angefangen. Für Muße verwendet sie andere Wörter, wenn sie sich in ihrem Bekanntenkreis darüber austauscht: „chillen“, „‘rumhängen“ sagt sie dazu. Die „Känguru-Chroniken“ (Anm.: D.i. eine Textsammlung des deutschen Autors, Liedermachers, Kleinkünstlers und Kabarettisten Marc-Uwe Kling, 2009-2014) würden dieses ganz besondere Lebensgefühl gut ausdrücken. Sie erlebe die Muße bei geselligen Zusammenkünften, aber vor allem in jener Zeit, in der sie mit sich selbst allein ist. Das kann beim Putzen oder beim Musizieren sein. „Meistens weiß ich erst danach, ob es Muße war. Ich erkenne sie daran, wenn ich hinterher entspannt bin oder mir Dinge eingefallen sind.“
Hannah Haug hat sich eine besondere Haltung zum Leben angeeignet. Durch Ausprobieren hat sie erkannt, dass sie zugunsten der Selbstverwirklichung auch mit wenig Geld und geringen materiellen Ansprüchen auskommen kann. „Das bedeutet für mich, dass ich zum Beispiel kein Auto besitze, keinen Bausparvertrag abschließe und auf Privatvorsorge verzichte.“ Sie brauche eigentlich wenig zum Genießen und Glücklich-sein. Ziel des Lebens seien nicht das Geldverdienen, die Karriere und soziale Anerkennung, sondern freie Zeit und Muße. Es ist ein freiwillig gewählter Verzicht, kein erzwungener – wie es im Falle von Arbeitslosigkeit der Fall ist. „Nur in Freiheit und mit Muße können wir unser Leben so gestalten, wie wir es wirklich wollen.“ Für Hannah Haug gehören Muße und Glück zusammen: „Wer nicht glücklich ist, hat keine Muße.“
Sie lebe freilich in einer privilegierten Situation und sei kein Vorbild für Frauen, die mit ungünstigen Rahmenbedingungen zurechtkommen müssen, fügt sie selbstkritisch hinzu: „Ich habe ein abgeschlossenes Studium, bin Europäerin, weiß und ich kann in der Wohnung meiner Eltern wohnen.“ Dennoch mache sie schon vieles anders als die meisten in der sogenannten Konsum- und Arbeitsgesellschaft. „Meine Bekannten haben eine ähnliche Lebenseinstellung.“
Weshalb tun sich viele Frauen so schwer mit Muße?
Das Thema Frauen-Muße war es hauptsächlich, das die Ethnologin Hannah Haug und mich zusammengeführt hat. „Die Fürsorgetätigkeiten von Frauen müssen in den Muße-Diskurs einfließen“, so Hannah Haug. Frauen sind aufgrund der tradierten Rollenbilder und der daraus resultierenden Zeit- und Arbeitsteilung noch immer stark benachteiligt. Der Zeit-Diskurs wird meist von der Erwerbsarbeit her bestimmt und die Zeit für Fürsorgetätigkeiten, die nach wie vor überwiegend von Frauen gemacht werden, sind im öffentlichen Diskurs nicht gar nicht präsent.
Hannah Haug nennt als Beispiele für die Ausklammerung des Gender-Aspekts die „Leisure Studies“ (Freizeitforschung) und die einschlägige wissenschaftliche Muße-Literatur (Hartmut Rosa: „Beschleunigung“, Christoph Wulf, Jörg Zirfas: „Die Muße“). Auch in Filmen und Medien verhalte es sich nicht anders. „Der Dokumentarfilm ‚Speed‘ reduziert die Muße auf ‚Entschleunigung‘ und stellt sie einseitig innerhalb des Arbeitsgesellschaft-Kontextes als Männer- bzw. Managerthema dar“, ärgert sich die Ethnologin über diese Ignoranz. Belegt ist auch, dass Muße etwas anderes als Freizeit bedeutet, die von der Arbeitszeit her definiert wird. Deshalb geht die Muße als Teil der freien, bewussten Tätigkeit über bloße Entschleunigung hinaus (vgl. Gisela Dischner: Wörterbuch des Müßiggängers).
„Außer deiner unveröffentlichten Diplomarbeit (Anm.: „Muße – ein männliches Vorrecht?“ von 2002), gibt es meines Wissens nach keine Studie, die den weiblichen Müßiggang aus der Gender-Perspektive im Zusammenhang mit Care untersucht“, wundert sich Hannah Haug über dieses Versäumnis, das sie als Ansporn für ihr Dissertationsvorhaben über die Muße sah. Ich widerspreche, denn die Mußeforscherin Gisela Dischner behandelt das Thema Frauen und Müßiggang unter Einbeziehung des Fürsorgeaspektes in ihren Büchern „Wörterbuch des Müßiggängers“ (2009) und „Liebe und Müßiggang“ (2011).
Muße ist Gegenstand der Forschung
Eine beachtliche Aufwertung erfährt das Phänomen Muße dadurch, dass sie seit 2013 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zum Gegenstand der Forschung erhoben wurde. Im Rahmen eines interdisziplinären Sonderforschungsbereiches (SFB) untersucht ein ForscherInnenteam diese in Vergessenheit geratene Kulturtechnik in dem mehrjährigen Projekt „Muße. Konzepte, Räume, Figuren“ (http://www.sfb1015.uni-freiburg.de). Fächerübergreifend ist der SFB innerhalb der sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultät (z. B. Germanistik, Slawistik, Romanistik, Ethnologie, Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte, Theologie, Psychologie, Soziologie), wobei der Schwerpunkt auf Philosophie und Literaturwissenschaft liegt. Wünschenswert wäre es, wenn von dieser Forschung weitere Fragestellungen ausgingen, die zwischen kultur-/sozialwissenschaftlichen und technischen/naturwissenschaftlichen Faktoren vermitteln.
Dennoch schreibt die Albert-Ludwig-Universität-Freiburg mit dem SFB „Muße. Konzepte, Räume, Figuren“ Geschichte. Sie ist meines Wissens die allererste Forschungseinrichtung, die Muße zum Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung macht. Zu hoffen bleibt, dass die Ergebnisse der Muße-Grundlagenforschung einen breiten öffentlichen Diskurs auslösen und auch in der gesellschaftlichen Praxis konkrete Auswirkungen zeitigen.
„Echte“ Müßiggängerinnen?
„Mit echten Müßiggängerinnen hatte ich bei meiner Forschung noch nicht zu tun, nur mit fiktiven“, schrieb mir Hannah Haug in einem E-Mail, nachdem sie einen Medienbericht über meine in Graz durchgeführten Mußespaziergänge und 5-Uhr-Tees gelesen hatte. Ich kam mir beim Lesen dieser Zeilen beinah exotisch vor, und dabei tauchte die Frage auf, wie man/frau sich wohl eine „echte Müßiggängerin“ vorstellt und welche Bilder damit verbunden sind. Am treffendsten finde ich den Typus im „Wörterbuch des Müßiggängers“ von G. Dischner beschrieben.
Ob Dandy, Flaneur, Bohemien – diese eher altmodischen Figuren des Müßiggangs bezeichnen intellektuelle Personengruppen von meist privilegierter Herkunft – oft Künstler und fast ausschließlich Männer. Auch Gisela Dischner hat den Müßiggänger bewusst männlich gezeichnet. Die Müßiggängerin ist für sie eine Gestalt der Zukunft. Frauen seien in der sogenannten Arbeitsgesellschaft zur Muße unfähiger, da noch immer meist Frauen für die Fürsorgetätigkeiten zuständig sind und Männer sich eher wenig einbringen. Frauen müssen ihre Zeit ganz genau planen und einteilen, um die Haus- und Familienarbeit mit der Erwerbsarbeit zu vereinbaren. Die erfolgreiche „Powerfrau“ verfügt meist über genügend Geld, Beziehungen und helfende Hände, wie Putz-, Koch- und Pflegehilfen mit meist migrantischem Hintergrund. Im Unterschied zu den Privilegierten können sich Frauen mit weniger Geld – viele sind Alleinerziehende – diese Unterstützung am Arbeitsmarkt nicht zukaufen, obwohl sie auf diese Hilfe im starken Maße angewiesen wären. Nicht allen Frauen stehen beispielsweise Partner, Tanten oder Großmütter als unbezahlte Helfer und Helferinnen zur Verfügung, um Karriere und Fürsorge-Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen. Deshalb kann die medial inszenierte und propagierte „Powerfrau“ in punkto Lebensstil und Lebensplanung kein Vorbild für die meisten Frauen sein. Hier wird deutlich: Gerade nicht-privilegierte Frauen brauchen entsprechende gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Muße, die voraussetzend für den eigenen Entwurf ist. In diesem Zusammenhang wird die Muße nicht als Privileg für Reiche oder intellektuelle Randgruppen, sondern generell als Menschenrecht verstanden.
Bei unserem Treffen vertraut mir Hannah Haug an, dass sie nichts von dem oft zur Schau getragenen elitären akademischen Habitus und von einem überkommenen philosophischen Mußebegriff halte. Deshalb macht sich die Ethnologin für „Care“ und die kollektive Muße-Idee stark. Hannah Haug wünscht sich eine Rundumerneuerung der Gesellschaft und in Sachen Feminismus sollte frau bei der 68-er Bewegung anknüpfen.
Apropos 68er-Bewegung: Zur Meisterinnenschaft in Sachen Müßiggang hat es übrigens die bereits erwähnte Literaturwissenschafterin und Mußeforscherin Gisela Dischner (geb. 1939) aus Hannover gebracht. Ihre „Materialien zu einer Theorie des Müßiggangs“ erschienen 1980 als Teil eines Buches über Friedrich Schlegels „Lucinde“ und wurden 1981 geraubdruckt, um für fünf DM in Berliner Bars angeboten zu werden. Gisela Dischner freute sich darüber und Hermann Bett drehte 1982 aufgrund dieser „Unterlage“ für den deutschen Staatssender ARD den Film „Nullbock. Zeitkrankheit Lustlosigkeit“.
Werke von männlichen Muße-Theoretikern sind in den Medien präsenter als jene der Mußeforscherin, die bei Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno studierte. Ihr Name scheint auch eher selten in den Literaturverzeichnissen der Bestseller über Muße oder in den Medienberichten auf. Diesbezüglich gibt sich Gisela Dischner gelassen. Sie meint: „Personen sind nicht so wichtig. Hauptsache die Muße wird verströmt.“ Ihre Einstellung zum „Ruhm“ ist im „Wörterbuch des Müßiggängers“ nachzulesen.
Manchmal muss einem etwas passieren, um zur Muße zu kommen.
Inzwischen ist die Sonne untergegangen, es ist kühl geworden unter der Platane. Hannah Haug macht den Vorschlag, unser Treffen in einem gemütlichen Gastgarten ausklingen zu lassen. Auf dem Weg ins Café erzählt sie mir, wie sie zur Muße gekommen ist.
Sie habe im Rekordtempo studiert und absolvierte – wie es für ihre Generation üblich sei – nebenher mehrere Praktika. Hannah Haug wollte ihren Eltern nicht zur Last fallen und ihnen ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit beweisen. Alles wäre wie geplant verlaufen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie so etwas wie ein Erweckungserlebnis gehabt habe. „Das hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern mit einschneidenden Erlebnissen, die mein Leben total veränderten. Ich erkrankte nach einer Phase der totalen Mußelosigkeit und Überforderung an Gehirnhautentzündung.“ Als sie sich von der Krankheit erholt hatte, war sie bald wieder gleich fleißig wie vorher. Ein weiteres Ereignis veränderte ihr Leben nachhaltig. „Ich war wieder einmal im Lernstress und hatte ein völliges Blackout, so dass ich den Zug, der auf mich zubrauste, gar nicht wahrnahm. In letzter Sekunde gelang es mir, zur Seite zu springen. Der Zug fuhr so dicht an mir vorüber, dass er mich streifte. Ich blieb zum Glück unverletzt, war aber schwer traumatisiert.“
Seitdem habe sie es geschafft, einen Gang zurückzuschalten. „Ich erlaube es mir nun, faul zu sein, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.“ Sie lacht befreit. Sie sei auf dem besten Weg dazu, eine Müßiggängerin zu werden. Mitunter tue sie sich schwer mit dem Hin und Her zwischen den unterschiedlichen Seinszuständen. Diesen Spagat zwischen Muss und Muße gilt es zu schaffen. „Mein Freund ist Theologe und er kann die Muße schon sehr gut“, sagt sie.
Die Kulturtechnik Muße haben die meisten von uns wohl nie gelernt, daher muss diese erst geübt werden. Der Begriff Muße – als offene, freie Zeit und Teil der selbstbestimmten, bewussten Tätigkeit – zeigt sich heute in seiner ganzen Ambivalenz: Die Muße ist die Voraussetzung für das Denken und die schöpferische Wahrnehmung mit allen Sinnen, aus der kreative Gestaltung hervorgehen kann. Deshalb stellt sie die oft entfremdeten Lebenszusammenhänge des Einzelnen und die damit verbundene, von Ökonomie diktierte, soziale Ordnung in Frage.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die querdenkende, eigenwillige, junge Frau, von der wir in Sachen Frauen-Muße sicher noch hören werden.
Muße-Fachfrauen aus drei Generationen
Hannah Haug will die Muße im Zusammenhang mit den Fürsorgetätigkeiten und den Gender-Studies untersuchen, Gisela Dischner ist eine Pionierin in der Mußeforschung, Gerlinde Knaus ist Initiatorin des Projektes Muße-Kunst. Drei Frauen aus drei Generationen – die unterschiedlicher gar nicht sein könnten. Trotz ihres Andersseins haben sie eines gemeinsam: Sie träumen von der Muße als kollektives Prinzip, von der Mußegesellschaft. Gisela Dischner spricht von einem möglichen Ende der Arbeitsgesellschaft, in der durch den Einsatz von modernen Technologien die „gesellschaftlich notwendige Arbeit auf eine Drei-Tage-Woche begrenzt“ wird. Ein konkreter Schritt in Richtung Mußegesellschaft könnte die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens für alle sein. Noch träumen einige Wenige von der Mußegesellschaft, aber es werden mehr werden. Angehende, übende und fortgeschrittene Müßiggang-Praktizierende werden gemeinsam fleißig Muße verströmen, damit sich dieser Traum von Freiheit eines Tages erfüllt.
Gerlinde Knaus
Muße für alle Tage. Schaufenster-Ausstellung in der
Hauptbibliothek Zanklhof, Graz, Juni – August 2014