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ausgabe #82. prosa. anna riegler

die macht der straßen


Mit gesenktem Blick streift sie durch die Straßen. Hupen und das Geschrei verärgerter, ungeduldiger Autofahrender durchbricht das Rauschen der laufenden Motoren vorbeirasender Fahrzeuge. In den Pfützen des gestrigen Regenschauers spiegeln sich das Blinken der Ampeln und die Lichter der Werbereklamen. Scheinbar ziellos bahnt sie sich ihren Weg über den Gehsteig, vorbei an den zahlreichen Schildern, die die Straßen säumen. Sie braucht ihren Blick nicht zu heben, um zu wissen was sie erwartet. Flimmernde Werbetafeln und schillernde Plakate offerieren die neuesten Produkte, deren Erwerb und Besitz tief gehende Zufriedenheit versprechen. Durchbrochen wird die schier endlose Aneinanderreihung von Angeboten nur durch die Ankündigungen und Bekanntmachungen der Machthabenden. Deren oberste Priorität sind Ordnung und Sicherheit. Um jegliches unerwartete und unerwünschte Ereignis zu vermeiden, herrschen auf der Straße strikte Regelungen. Die Verhaltenskodices in Form von einfachen Zeichen und Symbolen prangen unübersehbar an Schildern und Plakatwänden. Mit nur einem Blick auf die Oberfläche der Häuser, deren einstige architektonische Besonderheiten mit Videowänden und Werbeflächen überdeckt wurden, sind sämtliche Gesetze und Verordnungen ablesbar. Während sie die Straßen entlang schlendert, zieht das Universum der Werbung, der Verbote und Gebote im Augenwinkel an ihr vorbei. Die Verordnungen befolgend, fügt sie sich der Gehgeschwindigkeitsbegrenzung und bleibt nur an den dafür gekennzeichneten Orten stehen. Sie wirkt unauffällig, wie alle anderen. Über einige Umwege ist sie schließlich an ihrem Ziel angekommen. Unbemerkt blickt sie um sich, bevor sie schließlich das Haus betritt. Leise schließt sie die Tür hinter sich und folgt den gedämpften Stimmen, die aus dem oberen Stockwerk nach unten dringen.
Vor der Morgendämmerung verlässt sie das Haus wieder mit einem Rucksack, der schwer auf ihren Schultern lastet. Das intensive Licht der Werbereklamen blendet ihre Augen. Sie spürt, dass ihre Anspannung immer größer wird. Ihr Herz rast, ihre Hände zittern und Schweiß bildet sich auf ihrer Stirn. Sie muss den Drang sich ständig umzusehen unterdrücken. Ordnungsgemäß, möglichst unauffällig, bahnt sie sich ihren Weg durch die hell erleuchtenden Gassen. Um diese Uhrzeit sind kaum Menschen auf den Straßen unterwegs. Angekommen, an dem ihr zugewiesenen Platz, setzt sie sich in die Ecke einer Sackgasse, stellt den Rucksack neben sich und atmet tief durch. Im toten Winkel, unbeobachtet von den allgegenwärtigen Überwachungskameras, kann sie wieder ein wenig zu Ruhe kommen. Seit Monaten der Planung wartet sie auf diesen Moment. Es war nicht leicht. Sie hatten mit mehreren Herausforderungen zu kämpfen. Nicht nur die Beschaffung des Materials und in die Tiefen der Sicherheitsmechanismen von Computerprogrammen zu tauchen erwies sich als beschwerlich, sondern auch die eigene Zuversicht und den Mut nicht zu verlieren, war für alle eine Bewährungsprobe. Mit tiefen gleichmäßigen Atemzügen versucht sie sich zu beruhigen. Wird ihre Aktion gelingen? Sie schließt ihre Augen und konzentriert sich auf ihre Atmung.
Etwas hat sich verändert. Als sie ihre Augen öffnet, herrscht vollkommene Dunkelheit. Sie haben es geschafft. Sie haben das Sicherheitssystem der Stadt geknackt und den Lichtern und Überwachungskameras den Strom gekappt. Der Moment ist gekommen. Rasch steht sie auf, schultert den Rucksack und macht sich eilig auf den Weg. Die Zeit ist knapp. Jede Sekunde zählt. Ihre Hände zittern, aber die Gewissheit, dass sie in diesem Moment nicht alleine hier draußen ist, beruhigt sie. Im Schutz der Dunkelheit vollziehen sie ihren Plan. Es wird gemalt, gesprüht, geklebt, verändert. Die Veränderungen sind minimal. Es muss schnell gehen. Sie dürfen nicht erwischt werden.
In einer Ecke, die noch finsterer wirkt als die restliche Umgebung wagt sie es, die mit Leim gefüllte Dose aus ihrem Rucksack zu holen. Ihre Augen haben sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Mit zittrigen Finger öffnet sie die Dose und taucht den Pinsel in die klebrige Flüssigkeit. Sie versucht konzentriert zu arbeiten, doch sie muss ständig um sich blicken. Die Angst erwischt zu werden ist riesig. Ihr Herzklopfen dröhnt in ihren Ohren. Sie zieht ein weiteres Plakat hervor, will es an die Wand kleben. Doch kaum hat sie es angebracht, löst es sich wieder. Sie hat den Kleber zu sparsam aufgetragen. Ihre Nervosität steigt. Wieder taucht sie den Pinsel in die mit Kleber gefüllte Dose, bestreicht ein paar Stellen und drückt das Papier an die Wand. Schnell eilt sie weiter. Sie dreht sich um und betrachtet ihr Werk. Auf den ersten Blick ist fast kein Unterschied zu erkennen. Doch die Botschaft ihres Plakates, das nun über dem alten prangt, ist eine völlig andere. Sie weiss, sie muss zügiger arbeiten. An der nächsten geeigneten Stelle trägt sie den Kleber dicker auf, doch als sie ihre Utensilien verstaut, hört sie plötzlich Schritte näherkommen. Ihr Atem stockt. Sie lauscht in die Dunkelheit. Die Schrittewerden lauter. Angsterfüllt drückt sie sich an die Hausmauer. In der nächsten Sekunde schreiten zwei Sicherheitsmänner zielstrebig an ihr vorbei. Sie haben sie nicht bemerkt. Erst als die Schritte auch in der Ferne nicht mehr zu vernehmen sind, kann sie wieder aufatmen. Nun muss sie sich beeilen. Der Schock steckt ihr noch in den Knochen, doch die Handbewegungen werden ihr langsam vertrauter.
Kaum hat sie das letzte Plakat angebracht, kehrt der Strom zurück. Die Straßen sind wieder hell erleuchtet. Schon in der nächsten Sekunde ertönt der alltägliche Weckruf. In einigen Minuten werden die Menschen aus ihren Häusern zur Arbeit strömen. Die Funktion der Videowände konnte noch nicht wiederhergestellt werden. Die riesigen Bildschirme bleiben dunkel. Die ersten Menschen verlassen ihre Häuser und machen sich auf den Weg. Erwartungsvoll starrt sie auf die schwarzen Monitore während Menschenmassen sich in Bewegung setzen. Sekunden fühlen sich an wie Minuten. Mit einem Seufzer will sie sich abwenden, als plötzlich ein Flimmern bemerkbar wird. Die Videowände leuchten auf. Doch anstatt der gewohnten Bilder tauchen einfache Sätze auf den Bildschirmen über den Köpfen der Menschen auf.
Hier könnte DEINE Meinung stehen. Gestalte die Stadt, wie sie DIR gefällt.
Plötzlich reißen die Videowände die gesamte Aufmerksamkeit an sich. Autofahrende bleiben stehen und steigen aus. Menschen auf der Straße tuscheln hinter vorgehaltenen Händen. Auch die Plakate werden nun bemerkt. In den Gesichtern spiegelt sich Überraschung wider. Einige wirken verängstigt und unsicher. Doch es breitet sich eine lebhafte Stimmung in der Menge aus. Die Menschen lächeln und ihre Gespräche werden angeregter. Auch sie lächelt. Eine ungeheure Last fällt von ihren Schultern. Sie haben es geschafft.
Doch es dauert nicht lange und eine laute Sirene hallt durch die Stadt. Es ist das Signal, dass die Menschen unverzüglich die Straßen verlassen müssen und in ihr Heim zurückkehren sollen. Sie weiß, dass nun die Aufräumarbeiten beginnen werden, dass ihre Zeichen und Spuren so gut wie möglich entfernt werden. Die Plakate und Sticker, die sie monatelang entworfen und gestaltet haben, werden entfernt, überklebt und abgekratzt werden. Die Videowände werden resettet und das Sicherheitssystem der gesamten Stadt wird ausgebaut werden, was eine erneute Übernahme der Steuerungskontrolle deutlich erschweren wird. Doch sie haben ihr Ziel erreicht. Ihre Botschaften, ihre Kunstwerke, ihre Plakate wurden von unzähligen Menschen gesehen. Trotz aller Bemühungen, ihre gesamten Spuren zu entfernen, kann niemand die Erinnerung daran im Gedächtnis der Menschen löschen. Die Hoffnung, dass ihre Aktion Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen hat, ist geboren. Der Kampf um die Stadt hat erst begonnen.  


Anna Riegler

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