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ausgabe #81. prosa. edie calie

die sammlerin



„Sind Sie sich sicher, dass Sie keinen Anwalt benötigen?“, fragte der - von ihr aus gesehen - rechts sitzende Polizist.

„Ja.“

„Was haben Sie im Haus der Wilfingers gestohlen?“, fragte der - von ihr aus gesehen - links sitzende Polizist.

„Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich nichts gestohlen habe.“

„Wir haben Sie auf frischer Tat ertappt!“

„Frau Wilfinger hat uns alarmiert, weil Sie sich illegal Zutritt zu ihrem Haus verschafft haben. Ist das richtig?“, fragte der rechte Polizist.

„Ich habe nichts gestohlen!“

„Beantworten Sie die Frage meines Kollegen! Ist das richtig oder nicht?“, sagte der linke Polizist.

„Ja. Ja, die Frau hat sie gerufen, weil ich im Haus war.“

„Also waren Sie im Haus!“

„Ja! Aber ich habe nichts mitgenommen. Ich habe nur gelauscht.“

„Gelauscht?“, fragte der rechte Polizist.

„Ich wollte die schlafenden Menschen hören.“

„Schlafende Menschen hören, so einen Unsinn! Wer soll Ihnen denn das glauben?“, sagte der linke Polizist. „Entweder Sie erzählen uns die Wahrheit oder Sie lassen es sein, aber für Märchenstunde ist es heute wirklich schon zu spät.“

„Was genau wollten Sie denn bei den schlafenden Menschen hören?“, fragte der rechte Polizist.

„Ihre Töne.“

Der linke Polizist schnaubte verächtlich und drückte sich mit der Hand vom Tisch weg, sodass sein Stuhl laut über den Linoleumboden quietschte. „Sind Sie Schlafforscherin, oder was? Erzählen Sie uns als nächstes, dass Sie Schnarchen untersuchen?“

„Ich kann auch nichts dafür, dass ich höre, was sonst niemand hört. Glauben Sie, ich habe mir das ausgesucht?“

„Werden Sie gezwungen einzubrechen?“, fragte der rechte Polizist. „Wenn Sie mit uns kooperieren und Ihre Hintermänner offen-“

„Nein! Nein, so meinte ich das nicht.“ Sie machte eine Pause und dachte nach. Die Nacht drängte gegen das Fenster. Draußen war es so dunkel, dass sie in der Scheibe jedes Detail des Inneren erkannte, als wäre es ein Spiegel und kein Fenster zur Welt. „Also gut, Sie werden mir ohnehin nicht glauben.“ Sie stoppte erneut und sah in die zwei Gesichter: das linke genervt, das rechte bemüht ermutigend, als wollte es ein Kind zum ersten Schritt animieren. „Jeder Mensch hat einen individuellen Ton. So wie jede Person anders riecht, klingt sie auch anders. Ganz leise, kaum hörbar.“ Sie lauschte und die Polizisten mit ihr.

„Das ist die Klimaanlage, die da rauscht!“, sagte der linke Polizist.

„Die meine ich nicht. Ich höre noch zwei weitere Töne. Meinen eigenen kann ich leider nicht hören. Ich habe versucht ihn akustisch zu verstärken oder aufzunehmen, aber keine Chance. Aber Sie-“ Sie beugte sich näher zum linken Polizisten. „Ihr Ton ist eher tief, sehr stumpf und abgehakt. Wie eine Axt, die einen Baum spaltet. Und Sie-“ Sie beugte sich zum rechten Polizisten. „Hoch, eher hell, mit viel Hall, wie ein verliebtes Mädchen summen würde.“

Der linke Polizist schlug fest mit der Hand auf den Tisch, ein lauter Knall zischte durch den Raum und wurde von den nackten Wänden zurückgeschleudert. „Axt und verliebtes Mädchen, so ein Unsinn! Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen!“

„Und wie klingt Familie Wilfinger?“, fragte der rechte Polizist.

„Das ist ja das Besondere. Ich sammle diese Töne schon mein ganzes Leben. Ich schaffe es nicht sie für andere hörbar zu machen, aber hier oben“, sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Schläfe, „merke ich sie mir. Ich versuche ein Muster zu finden, Zusammenhänge zwischen dem Ton und der Persönlichkeit. Es gibt Töne, die eher unangenehm sind und wie ein leiser Presslufthammer dröhnen.“ Sie sah den rechten Polizisten an. „Und dann gibt es welche, die so schön und wohlklingend sind, dass man sich am liebsten“, sie wandte ihren Kopf zum linken Polizisten, „immer in ihrer Nähe aufhalten möchte. Leider konnte ich bislang keine Verbindung herstellen. Manchmal klingen die sympathischsten Menschen scheußlich und dafür Arschlöcher wunderschön. Und auch welche Paare sich finden: Bei manchen passen die Töne zusammen und andere ergeben zusammen eine grauenvolle Mischung und das scheint absolut unabhängig davon zu sein, wie glücklich die Beziehung ist.“

„Und bei Familie Wilfinger?“, fragte der rechte Polizist.

„Ach ja, genau. Ich habe sie gestern zufällig gesehen. Erst die Frau und später dann den Mann mit dem Baby. Jeder von ihnen hat so einen unangenehmen, vibrierenden, nervtötenden Ton, aber gemeinsam- Ich habe das noch nie erlebt. Normalerweise ergeben drei unangenehme Töne zusammen noch etwas viel Schlimmeres, aber bei den Dreien wurde es plötzlich zu so was Schönem. Ich dachte schon, mich verhört zu haben und es ist auch wirklich nicht leicht, mit den lauten Alltagsgeräuschen und ständig redet jemand, oder es läuft Musik, oder- Und das wird ja auch immer schlimmer. Wo kommt man denn heutzutage noch zur Ruhe und kann die Klänge der Stille genießen? Das geht nur in der Nacht. Ich musste mich einfach überzeugen und sichergehen. Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben, hätte ich die vorgezogen, aber-“

„Hätten Sie nicht anläuten können?“, fragte der linke Polizist.

„Mit welchem Argument denn? „Grüß Sie, dürfte ich Ihnen einen Moment zuhören?“, oder wie?“

„Zum Beispiel!“

„Die hätten mir genauso wenig geglaubt wie Sie!“

„Und stimmte es?“, fragte der rechte Polizist. „Klingen sie wirklich gut zusammen?“

„Ja, wie ein perfekter Dreiklang. Leider waren sie nicht in einem Raum, das Baby schlief im Kinderzimmer, ich konnte also nur vom Gang aus lauschen und-“ Verträumt blickte sie nach rechts, als erinnerte sie sich daran, was sie vor wenigen Stunden noch gehört hatte. „Es klang so schön. Ich wünschte alle Menschen könnten hören, was ich hören kann.“

Der rechte Polizist nickte leicht.

„Und dann ist Frau Wilfinger aufgewacht und hat den Schock ihres Lebens bekommen. Wir werden Sie den Rest der Nacht hierbehalten“, sagte der linke Polizist.

„In der Früh können Sie gehen“, sagte der rechte Polizist.

Sie erhoben sich gleichzeitig und deuteten ihr es ihnen gleichzutun.

Die einzige Zelle auf dem Wachzimmer bestand aus einem kleinen Raum mit dicken Wänden. Sie schlossen die Tür hinter ihr ab und gingen zurück ins Büro. Das kleine Bett war weicher, als sie gedacht hätte. Sie legte sich angezogen auf die Matratze und starrte an die Decke. Das Licht erlosch. Das Gebäude hielt dem Drängen der Nacht nicht länger stand, die Dunkelheit umarmte sie und brachte die Stille mit.

Sie schob ihre Hand durch den Halsausschnitt ihres T-Shirts in den BH und tastete nach dem gestohlenen Diamantenring. Als sie ihn fand, ließ sie ihn im Versteck und zog ihre Hand wieder raus. Glücklich summte sie den Ton einer Lügnerin.


Edie Calie
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