ausgabe #79. essay. rainer willert
die wundersame geschichte von der errettung der welt
>>>the best is yet to come<<<
nach dem Weltuntergang, den keiner bemerkte
(Auszug aus einem längeren Stück)
Die Welt ist untergegangen, das Leben geht weiter: Hunde werden Gassi geführt, auf hoher See legen unreife Bananen ihren Weg zum Verbraucher zurück, und beim monatlichen jour fixe im Hause von Carla Kunst? Auch dort beginnt der Abend in gewohnter Manier: Eingesponnen zwischen dem Drang zur Selbstdarstellung und dem Bewusstsein, als Elite Verantwortung für das Ganze zu tragen, haben heute vierzehn vielbeschäftigte Damen und Herren ihre Teilnahme an dem regelmäßigen Salonabend möglich gemacht. Was die Anwesenden bei allen Unterschieden teilen, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie die zeitlos modernen Ledersessel okkupieren, in zwangloser Konversation, auch nachdem Carla den Abend eröffnet und fragt:
- Was haltet ihr eigentlich von dem Weltuntergangsgerede, das die Presse derzeit so hochzieht?
- Endzeitbusiness, verkündet einer und wird sogleich mehrfach übertönt:
- Hokuspokus, Firlefanz, alle Menschen sind tot. Das war schon immer eine Meldung für die Zeitungen, klingt es durcheinander. Verjüngungsepoche nennt Goethe den Weltuntergang gegenüber Eckermann …
- Mag sein, meint Carla; Fakt ist jedoch, dass niemand heutzutage noch wirklich an die Zukunft glaubt. Ich persönlich halte das Bild von dem Abgrund, in den wir bereits stürzen, für ebenso legitim wie durchschaubar, weil es natürlich darum geht, Verbündete gegen diese oder jene Fehlentwicklung um sich zu scharen.
- Scharen scharen, klingt es mit sarkastischem Unterton Richtung Carla zurück, und was machen sie dann, deine Scharen, außer ihr ‚ungerechtes‘ Ende zu bejammern? Sie treten sich gegenseitig auf die Füße – oder sie schlagen sich gleich die Köpfe ein.
- In sublimer Form, wie sich das für unsereiner geziemt, hätte ich nichts dagegen, lautet Carlas strenge Replik und noch während sie erneut Luft holt, wird sie vom allgemeinen Ping Pong bereits überrollt:
- Das Ende der Welt, kann man sich ja vorstellen, das Ende des Kapitalismus aber nicht! Mark Fisher habe das auf das geduldige Papier geschrieben, allerdings ohne an Karl Kraus zu denken, von dem die Aussage überliefert sei: Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Der Kraus sei doch selber Vielschreiber gewesen, wird moniert – aber nicht weiter aufgegriffen. Stattdessen kommt ein Verweis auf den vielseitigen Blaise Cendrars, dessen Engel von Notre-Dame den Weltuntergang filmt; eine populärere Darstellung davon hätte Enzensberger geliefert, bei dem die vier apokalyptischen Reiter als Westernhelden aufträten, die Zigaretten verkauften. Auch der Untergang, so Enzensberger, sei nicht mehr das, was er einmal war. Oder, um mit Cioran zu sprechen: Nichts ist sicher auf der Welt, nicht einmal das Weltende. Weil der Mensch eine ungeheure Ausnahme bildet, kann er nicht gut enden. Cioran, wie gesagt, meint der Sprecher, dem nun wiederum Carla entgegnet:
- Am Schluss werden wir ja sehen, wie es endet, ich schätze, es wird sein wie immer, früher war alles besser, wird es heißen, das Aktuelle ist Mist; ein perfektes Perpetuum Mobile, nichts Anderes ist dieser Untergang, und die Westler, natürlich, haben wieder privilegierte Plätze, sozusagen in der ersten Reihe, weil es unser Abendland mit Sicherheit zuerst erwischt …
- Nichts werden wir sehen, übertönt Jonathan Fröhlich die Runde, um gleich darauf zu verstummen und stattdessen, wie zu Hypnosezwecken, seine mitgebrachte Zeitung zu schwenken. Hinein in die tatsächlich einkehrende Aufmerksamkeit lässt er sein Pendel jäh stocken. Zwei weitere Griffe, schon ist die Zeitung entfaltet, und dann – als ob das nun das Thema wäre – deutet er auf die Titelseite seines Blattes, auf ein Foto mit spielenden Straßenkindern in einem der allzeit bereiten Kriegsgebiete. „Kampfpause“, verkündet er in sachlichem Ton, würde die Bildunterschrift dazu lauten, aber, so gibt er, jetzt mit sorgenvoller Miene zu bedenken, ist es nicht vielmehr so, dass die Kinder von der einen oder anderen Kriegspartei hier nur vorgeschickt wurden, als „human shield“?
- Komm zur Sache, du missbrauchst die unschuldigen Wesen ja auch! Dieser Einwurf, kritisch, gezielt, ficht Jonathan nicht an, denn: Sein Umweg über die Kinder hat Ernst in die Runde gebracht. Der Weltuntergang, so spürt er jetzt deutlich, ist meine Mission. Entsprechend missionarisch redet er weiter:
- Sehr wohl gehört das zur Sache, steht sogar im Zentrum; der Siegeszug der vom Leben abgeschnittenen Mittelbarkeit hat die Welt kooperativ, effizient und zugleich verwundbar gemacht. So bewusstlos wie wir unsere Werkzeuge gewähren lassen und uns mit einem verlogenen Als-ob-Nutzen zufriedengeben, so wenig sitzen wir auch sonst noch wirklich am Steuer. Wir haben uns daran gewöhnt, irgendwelche Brocken für das Ganze zu nehmen – oder umgekehrt, alles zu verwerfen, nur weil eine Kleinigkeit fehlt. Mal so, mal so, wie bei dem aktuellen Weltuntergang, an den man auch meint, nicht glauben zu müssen, nur weil einige der Begleitumstände nicht den Konventionen entsprechen ... Ohne die Stimme zu senken, in mächtigem Zickzack, rauscht Jonathans Redeschwall voran und geht dabei immer weniger in und stattdessen über die Köpfe der Freunde hinweg. Aufgemerkt, ruft Jonathan deshalb abrupt; prompt kehren die abgedrifteten Frageblicke zurück. Zu sehen bekommen sie – nichts. Nichts außer einem neuerlich verstummten Jonathan. Und erst als die Spannung im Raum in Ärger umzuschlagen droht, beginnt Jonathan wie selbstverständlich zu nicken, wissend zu lächeln, tief Luft zu holen - um endlich, getragen von der auf ihn gerichteten Ungeduld, weiter zu sprechen: So ist das mit dem Menschen. Er schafft sich Geräte. Geschriebenes, auch die Presse, die Medien sind solche Geräte, die die Funktionen des Körpers erweitern und ergänzen. Dort allerdings, wo eigenes Blut nicht fließt ist das Zentrum verschoben, nimmt die Apokalypse ihren Lauf; so also lässt sich Jonathan – zuletzt recht manieriert – vernehmen, um schließlich, jetzt in mahnendem Ton zu verkünden: Das eben ist die Tragik des sich durch Hantierung über seinen organischen Umfang hinaussteigernden Menschen: Er schießt sich aus der Bahn, ohne es zu bemerken. Der Untergang sind wir. Und haben wir es erst so weit gebracht, dann leben wir lustig weiter, richten uns ein in einem Nachtbild, ohne Natur, in der menscheneigenen Schöpfung aus Kriegen, verwüsteten Städten, Folterkammern. Genau wie von Hieronymus Bosch auf seiner Höllentafel ins Bild gesetzt. Mal Frohsinn, mal Folter. Ein Weltuntergang, der niemandem auffällt.
Ohne den geringsten Anflug eines Zweifels deutet Jonathan neuerlich, jetzt schnörkellos, sachlich auf seine Zeitung, diesmal auf Seite drei und ruft: Hier, für alle, die lesen können, der Weltuntergang, in welcher Form auch immer er auftritt, ist ein einschneidendes, ein grundsätzlich irreversibles Ereignis. Ein Ereignis, das prinzipiell das Ende der Menschlichkeit und somit der Menschheit bedeutet. Punkt!
An dieser Stelle, quasi unvermeidbar, lässt sich die Flut der Einwände nicht mehr zurückdämmen; Leser desselben Blattes verweisen Jonathans Interpretation des betreffenden Artikels ins Reich der Phantasie, jemand meint, ein Ende sei nicht erkennbar und widerspreche den Fakten, u.a. der Tatsache, dass man hier doch höchst lebendig, zivilisiert, friedlich, also zutiefst menschlich beisammensäße. Unter Jonathans ständig lächelndem Nicken ersticken solche und ähnliche Einwände in ihrer eigenen Wut; sie fühlen sich unverstanden, nein verhöhnt, werden unachtsam, verlieren kurz die Deckung, und genau in diesen freien Spalt platziert Jonathan sein kurzes, knappes Finale, das besagt:
- Die Kompatibilität von Weltuntergang und Kontinuität steht außer Frage. Und das, klipp und klar, kann doch nur heißen: Auch nach dem Untergang geht es weiter.
- Was bitteschön geht weiter, klingt es schüchtern herüber.
- Das Ende natürlich, sonst nichts!
Während die Debatte zwischen den Freunden ihre eigenwilligen Bahnen zieht, schreitet der Weltuntergang zügig voran. Ein Weltuntergang, der recht unkonventionell daherkam und als solcher nach wie vor nicht wirklich auffällt. Geradewegs hinein in diese Merkwürdigkeit betritt – von den Menschen ebenfalls unbemerkt – Bolon Yokte' K'uh, Gott der Totenwelt, von Haus aus Herr über Krieg und Schöpfung, die Szenerie.
Exakt, wie von den Mayas im Zusammenhang mit dem Weltuntergang angekündigt, steht dieser lange Verschwundene erneut auf dem Plan. Diesmal mit einem spezifischen Auftrag: LEITE DIE NEUE ZEITRECHNUNG EIN stünde, falls Götter so etwas bräuchten, in seinem Aufgabenheft geschrieben, ergänzt von folgendem PS: Dein Job ist umfassend, aber nicht sonderlich originell, denn mittlerweile propagieren praktisch alle irgendeinen Neubeginn. Trotzdem rennst du mit deiner Mission keine offenen Türen ein, weil der von dir betreute Untergang im Unterschied zu den üblichen Varianten auf leisen Pfoten geschlichen kam, ganz ohne den großen Rums; ein Umstand, der es dir beileibe nicht einfach macht, deine Klientel zuallererst von dem stattgefundenen Ende zu überzeugen und danach davon, dass es möglich ist, den weiteren Verlauf zu drehen. Viel Glück, kann ich da nur wünschen. Enttäusche mich nicht!
Der Rahmen, der Bolon Yoktes Auftrag umgibt, bildet ein von ihm selbstbewusst so formuliertes Bolonsches Triple, das kurz und knapp alles besagt, worauf es ankommt, nämlich: 1. Schaut her, der Weltuntergang hat stattgefunden. 2. Trotzdem geht es weiter. 3. Überprüft eure Werkzeuge, damit die neue Zeit besser wird.
Ein fertiges Konzept ist so ein Triple natürlich nicht; entsprechend beginnt die neue Zeitrechnung unter Bolon Yokte ohne vorgefertigten Plan, aber immerhin, um methodische Finesse bemüht, mit Analyse – Synthese. Für Schritt eins, die Analyse von herrschenden Kraftfeldern und Tendenzen, sowie Schritt zwei, die Synthese, die Frage nach dem Wünschbaren, betrachtet Bolon Yokte die Träume. Was sonst?
Zu seiner Traumjagd verwendet der alte Gott mit dem geköpften Greifvogel in der Rechten sein spezielles Traumfängernetz, eines in dem sich tatsächlich nur Träume verfangen. Träume allenthalben, von allem und allen; und das Ergebnis, schon nach wenigen Minuten ist es parat: Aus seinem Netz schüttelt Bolon nur Müll, Fetzen von absolut unidentifizierbarem Gestammel, zerfranste, zerstückelte Schreie, die von brutalen Kämpfen zeugen, gefledderte Bilderwracks, denen nichts Anderes mehr anzusehen ist als die Gewalt, mit der die Zerstörung um sich griff. Selbst die abgebrühtesten Albträume liegen leblos, vom Grauen erstarrt, in dem nicht einmal mehr zuckenden Haufen. Und einige verschüttete Szenen, in denen doch noch so etwas wie Leben zu glimmen scheint, verfinstern sich beim Freilegen schnell zu kleinkarierten Ausschweifungen, unmöglichen Fluchten, permanentem Scheitern. Bolon Yokte ist beeindruckt. Ein solches Ausmaß an Unglück und genereller Hoffnungslosigkeit bietet wirklich einen überaus deutlichen Indikator für die Zerrüttung in der Welt. Sauber, denkt Bolon Yokte, ein Weltuntergang, der sich gewaschen hat. Und wie ich mir schon dachte, sind es die Werkzeuge, die hinter dem Schlamassel stecken. Dabei geht es nicht um so etwas wie wie Sichel, Hammer, Eimer, Internet & Co. Im Zentrum stehen vielmehr die Antriebsaggregate der Menschen, vorneweg das Geld, der Sex, der Alkohol, die Gewalt, die Sprache; all diese wunderbar gegenwärtigen Beweger sind den Menschen fremd geworden, setzen ihnen zu, machen sie stumpf, degradieren sie zu Automaten.
Auf die Spur mit den Werkzeugen war auch Jonathan schon gekommen, der – man erinnert sich an seine fulminante Rede in Carlas Runde – der explizit über den verlogenen Als-ob-Nutzen der Werkzeuge räsonierte. Auf diese Ahnung gebracht hatte ihn schlicht seine Zeitung.
Die Sache läuft. Bolon Yokte, unsichtbar, nickt zufrieden, schnalzt mit der Zunge, erfreut darüber, dass auch die Zeitungen, egal, was sie schmieren, das Thema entdecken. Welch ein Ruck wird die Welt erfassen, wenn meine Botschaft, das Bolonsche Triple, erst in allermunde ist. Dem alternativlosen „Weiter-so“ wird Hören und Sehen vergehen. Wie Schuppen wird den Menschen ihre Blindheit von den Augen fallen, wenn sie bemerken, wie ihre Werkzeuge über sie herrschen und nicht umgekehrt, sie über diese. Höchste Zeit, dagegen zu steuern ... Dieses und Ähnliches mehr wälzt Bolon Yokte im Geiste, während die Menschen, ob nun im Richtigen oder Falschen, weiterhin selbst bestimmen, wohin ihre Reise geht. Die neue Zeitrechnung wird es da sicher nicht einfach haben; Bolon Yokte schüttelt sein Haupt, stampft auf – und verharrt in dieser Pose. Auch sein Kopf steht plötzlich still. Im nächsten Augenblick, zischt ein gertenschlanker Blitz aus dem nun statuarischen Götterhaupt; der zackigen Blendung durch den Blitz folgt ölglänzende Schwärze, aus der es ganz aus der Nähe wie Donner hallt:
Sei‘s drum, Schluss damit, es bleibt dabei!
Die Stille nach diesem Stakkato, ist lang genug für fundamentale Fragen, aber viel zu kurz, selbst für vorschnelle Antworten, denn, hinein in die kleine Kunstpause ertönt etwas, das sich leicht als ein bestimmt zweihändig mächtig geführter Schlag auf einen Gong identifizieren lässt. Die sogleich einhundertprozentig auf das helldumpfe Gongrauschen gerichtete Aufmerksamkeit denkt sich als Auslöser des Schalls einen sicherlich mit Teddyfell gedämpften Schlegel, der einen hauchdünnen, aus Metall getriebenen, konvexen Körper aus seiner blankgeputzten Bereitschaft erweckt und in Schwingung versetzt. Aus den Schwingungen transformieren sich rundum ausschwärmende Schallwellen, die ein samtenes Brummen in sich tragen, das von Anfang an verhalten und doch kraftvoll Zuversicht und Ermutigung verströmt. Und genau dieser verheißungsvolle Strom bildet das Signal zu einem Aufbruch, der in den empfangenden Körpern selbst dann noch fortwirkt, als der Nachschub an Klang längst versiegte. Ebenso abgeebbt und gleichwohl weiterhin präsent ist ein göttlich anmutender Bass, der wie verschattete Schriftzeichen flirrt und dem ratlosen Blick verkündet:
Welcome! Die neue Zeitrechnung ist: Eingeläutet!
Einfach und eindrucksvoll zugleich, greift dieses Klangbild rundum aus, strömt in alle Richtungen, ohne je irgendwo zu sein. Es bildet ein Paradox der Wahrnehmung, das wie selbstverständlich den Gegensatz aus Optischem und Akustischem, aus Bestehen und Vergehen überwunden hat. Wer daraufhin animiert von dem schwerelosen Inhalt den Menschheitstraum von immerwährender Einheit bereits Realität geworden sieht und sich am Ziel, am Ende der Zeiten und Welten, also im Reich der Ewigkeit wähnt, hat die Rechnung ohne Bolon Yokte gemacht. Ein mittlerweile aufgekommenes Rauschen, schwerem Ein- und Ausatmen ähnlich, deutet auf ein doch noch Kommendes hin, auf ein irgendwie Weiter. Etwas liegt in der Luft, brütet, atmet, verbreitet Aufmerksamkeit heischende Spannung. Aus geht der Atem und ein, aus – ein, bis plötzlich, wie bei unruhigem Schnarchen, der Rhythmus vernehmlich stockt, einem Räuspern Platz macht, gefolgt von dem schon bekannten göttlichen Bass, der verkündet:
In einhundert Jahren nachkontrollieren!
Danach, kaum ist die letzte Silbe verflogen, geht, wen wundert’s, die Welt und mit ihr der Untergang weiter … vorerst bis zu dem Kontrolltermin in einhundert Jahren.
Die Uhr läuft, packen wir´s an, am besten sofort; wer weiß wie ungeduldig Bolon Yokte die Jahre zu zählen beliebt.
Rainer Willert