ausgabe #28. interview. ulrike freitag
es ist fast ärgerlich einfach
Interview mit Dimitré Dinev
Der mehrfach preisgekrönte Autor Dimitré Dinev (Engelszungen; Ein Licht über dem Kopf; Eine heikle Sache, die Seele; Das Haus des Richters u.a.) im Gespräch mit Ulrike Freitag über Menschsein, Geld und Medien.
ausreißer: Sie haben in den Grazer Minoriten eine Lesung unter dem Titel Barmherzigkeit gehalten, ein nicht mehr allzu gebräuchlicher Begriff, der anschließend auch Inhalt einer, teilweise sehr emotional geführten, Diskussion war. Im Zuge dieser wurde immer wieder auch auf Emmanuel Levinas Theorie des „Anderen"1 Bezug genommen. Reicht dieser Blick auf den anderen, um ihn wirklich wahrzunehmen, oder sind wir auf die Geschichte eines Menschen angewiesen?
Dinev: Ich glaube, dass sind zwei verschiedene Fragen. Auch Levinas sagt, wenn man bei den anderen die Augenfarbe erkennt, nimmt man ihn nicht mehr an wie „das Andere“. Der andere ist die Geschichte – so radikal ist das. Er ist sofort ein Sinn. Sein Sinn erschließt sich nicht dadurch, dass er z.B. ein Universitätsprofessor ist oder etwas Anderes, sein Erscheinen allein ist schon der Sinn. Weil es so ist, kann ich mich von dieser Beziehung nicht lösen, dass ist es, was mich als Mensch ausmacht. So verstehe ich auch das Modell von Levinas. Das Sehen ist dann wieder eine andere Geschichte. Es geht mir hier wie gesagt darum, was mich als Mensch ausmacht, einzigartig macht: Dass man genau diese Verantwortung hat.
ausreißer: Sie haben im Zuge der Lesung auch gesagt, dass die Verantwortung die man hat, das Charakteristikum für das Menschsein überhaupt ist. Schließt das auch eine Pflicht mit ein?
Dinev: Im Deutschen ist es so schön, dass im Wort Verantwortung die Antwort drin steckt. Die Anwesenheit eines anderen ist immer auch eine Frage. Die Frage, die sich aus dem „Ich bin da“ stellt. Und ich verfüge über die Mittel, ihm Antworten zu geben. Egal, ob es um Geld oder um Elend geht. Ich habe das im weitesten Sinn gedacht, auch in Bezug auf den anderen nebenan oder in einer Beziehung. Man kann hier auch nicht von Pflicht reden. Es ist nicht Pflicht, es ist unser Wesen. Wir werden gefordert, Antworten zu geben.
ausreißer: Verweist das auf den Mensch als soziales Wesen?
Dinev: Ja, was ich betonen wollte ist, dass wir über diese Mittel, Antworten an den anderen zu geben, verfügen. Es ist nicht so, dass wir sie erwerben müssen, das Leben stellt uns diese Mittel zur Verfügung und in dem Maße wie wir antworten erschließt sich unsere Individualität. Wir können die Antworten vermeiden, wir können machen was wir auch wollen, aber wir können uns nicht lösen von dieser Verantwortung. Weil wir immer in einer Gesellschaft heimisch sind. Sie ist die Heimat und nicht eine Grenze, eine Landschaft.
ausreißer: Ist Barmherzigkeit für Sie etwas Aktives? Ein aktives Tun, das Setzen einer Handlung?
Dinev: Vielleicht müsste ich hier noch genauer analysieren, um zu einem Entschluss zu kommen. Aber ja, ich würde es so auffassen, dass die Barmherzigkeit das Aktive ist, das auf der grundlegenden Fähigkeit des Mitgefühls und des Mitleids aufbaut. Barmherzigkeit ist immer objektivierbar, man kann sie erkennen. Mitgefühl kann man ja nicht sehen.
ausreißer: Ist sie dann auch etwas Politisches?
Dinev: Ich würde sagen ja. Sie wird politisch ohne dass sie es verlangt. Sie wird politisch allein dadurch, dass sie sich objektiviert und deshalb anschaulich wird, deshalb verlangt sie auch eine Gerechtigkeit. Sie verlangt nach einem Staat, der Gesetze hat und nach einer Sozialität sowie nach einer Autorität, die fähig ist, gerecht zu handeln und nicht nur in einem einzigen Interesse. Barmherzigkeit ist also politisch, aber es ist nicht ihre Intention. Wenn ein Interesse da ist, würde sie sofort mutieren; aber sie weckt Interessen, an anderen, man kann nicht auf sie vergessen. Sie beeindruckt, es ist etwas Bleibendes.
ausreißer: …vergessen...
Dinev: Man sollte das Vergessen vielleicht nicht so negativ auslegen. Es ist vielleicht notwendig, vielleicht etwas Gutes. Hier kann man das auf Grund der Geschichte vielleicht kaum so sagen. Aber das Vergessen hat auch etwas Heilsames.
ausreißer: Sie haben in Bezug auf Barmherzigkeit auch einmal von einer Utopie gesprochen. Wie würde so eine Utopie aussehen und was ist der Unterschied zwischen einer Utopie und einer Ideologie?
Dinev: Wenn man es ganz reduziert ausdrückt: Ideologien wollen Wirklichkeit werden und Utopien bleiben Träume.
ausreißer: Sind die Träume dann ausschlaggebender?
Dinev: Eben das ist das Spannende, denn wenn ein Mensch immer in seinen Träumen gehindert wird, wird er krank. Die Psychologen würden sagen, wenn ein Mensch seinen Traum verliert, bekommt er schwere psychische Störungen.
In Bezug auf Utopien würde das heißen, obwohl sie Träume bleiben, sind sie genauso wichtig wie reale Inhalte. Wenn die Menschheit aufhört zu träumen – also dann bekämen wir ein Problem! Und bei einer Ideologie ist es klar, wir haben ja viele Bespiele an denen wir sehen, dass sie verwirklicht worden sind und die Konsequenzen kennen wir ebenfalls, wir wissen was dann passiert.
ausreißer: Ideologien sind auch oft mit der Entstehung eines neuen Staates verbunden. Diese haben Sie einmal als einen Gewaltakt bezeichnet, der immer Schuld nach sich zieht. Ist das Beanspruchen eines Landes mit fixierten Grenzen, innerhalb derer Rechte und Gesetze nur für die „zufällig“ darin lebenden Menschen gelten etwas schwer Nachvollziehbares für Sie?
Dinev: Ja, richtig. Deswegen sag ich ja, dass es immer ein Gewaltakt ist. Weil es immer mit ganz purer Gewalt zu tun hat, diese Grenzen zu ziehen. Wenn man sich die Entstehung der verschiedenen Staaten anschaut, fällt mir keine unblutige Geschichte ein, da es immer mit Ansprüchen Einzelner zu tun hat. Es deckt nie die Interessen aller, die daran beteiligt sind. Es entscheidet die Mehrheit und die Entwicklung der Kriegsführung. Und daher bin ich der Ansicht, dass die Gründung eines Staates immer zu einer Anhäufung von Schuld führt, was wiederum zu späteren Vergeltungsakten führen kann. Es bleibt auf jeden Fall eine Verletzung da. Und heutzutage wird diese Verletzung durch Geld geregelt. Das einzig Gute am Geld ist diese Möglichkeit des Loskaufens. Bei vielen Verletzungen versucht man auch im gerichtlichen Sinn zu einer Entschädigung zu kommen, damit man nicht immer in diesem Kreislauf von Rache, Zahn um Zahn, diesem Teufelskreislauf bleibt, damit man davon loskommt. Hier gibt es ökonomische Lösungen. Diese greifen jedoch nicht immer. Weil die Verletzung oft stärker ist und manchmal ein Geldangebot auch als Beleidigung aufgenommen wird. Aber wir wissen ja, wie groß die Bedeutung des Geldes ist. In vielen Fällen wird dieser Hunger nach Rache damit gestillt. In Ländern, in denen es Blutrache gibt, gibt es auch die Möglichkeit, dass man sich daraus loskauft, wofür dann eine Summe bestimmt wird.
Die Verantwortung gegenüber Fremden ist stark in diesen Gesellschaften, man ist immer für seinen Gast verantwortlich. Wenn ihm etwas passiert, muss man dafür die Verantwortung übernehmen. Das ist das Interessanteste, dass der Fremde immer der bestimmende Teil in einer Ethik ist. Wenn man eine Ethik des Eigenen konstruieren will, dann wird sie immer ungerecht sein und grausam. Somit ist der Fremde immer zentral in jeder Ethik, auch in Religionen. Dieses Fremde könnte ja auch Gott sein. Er ist das uns Unbekannteste das es gibt, das absolut Fremde, weil man ihn nie als das Eigene anerkennen kann. Und so gesehen kann ein Staat auch nie barmherzig sein.
ausreißer: Weil wir gerade bei den Grenzen waren: Sie sind 1990 über die Grüne Grenze nach Österreich geflohen. Ganz naiv gefragt: Wie nimmt man den Weg, das Land, die Menschen wahr, wenn man dorthin flüchtet und nicht einfach einreist? Hat man da ein anderes Augenmerk, hat man überhaupt Augen?
Dinev: Man hat immer Augen. Aber wenn man auf der Flucht ist, dann teilt man die Eindrücke in bedrohliche und nicht bedrohliche ein. Eine Landschaft kann auch ein Grab sein. So gesehen ist sie immer auch unheimlich, man kennt sie nicht, man hat sich noch nie in ihr aufgehalten, es ist alles fremd und alles kann dich aufessen. Die frisst dich dann, die Landschaft! Egal wie schön sie später ist, wenn du Ruhe hast. Das gilt natürlich nur solange du unterwegs bist. Sobald du den richtigen Ort gefunden hast, beginnt eine andere Phase, aber solange du unterwegs bist ist alles vereinfacht.
Das Gleiche gilt auch für die Menschen. Du kannst von ihnen beides erwarten: Rettung oder Gefahr. Bei den Menschen verlässt du dich nur auf deine Intuition und hoffst, dass du richtig liegst. Aber später, wenn du einen Ort gefunden hast, dann ist auch deine Wahrnehmung eine ganz andere, denn du bist in der Gesellschaft ganz unten angesiedelt. Noch tiefer fallen geht jetzt nicht. Du kannst dich nirgendwo erholen. Es gibt keine Struktur, die dir ein bisschen Ruhe gönnt, in der du dich erholen, ein bisschen entspannen kannst. Du kannst nicht auf die Hilfe eines Freundes, einer Familie rechnen, die dir Geborgenheit bieten kann. Und so gesehen entwickelst du einen viel objektiveren Blick auf die Gesellschaft. Weil du immer gefordert bist, weil dein gegenwärtiger Zustand dadurch bestimmt wird, was du sagst, wie du dich verhältst und nicht auf Grund deiner Vorgeschichte oder der Vorgeschichte deiner Familie.
Es gibt, ich glaube in der Bibel, eine Stelle: Wer nicht im Exil – das ist jetzt zugespitzt, man kann auch sagen, in der Fremde – gelebt hat, der kann nicht Gut von Böse unterscheiden. So gesehen bist du sofort das Gewissen. Ohne dass du es willst bist du das Gewissen der Gesellschaft. An dir wird die ganze Reife dieser Gesellschaft erprobt. Du bist ein Indikator.
ausreißer: Und wie schneidet Österreich da ab?
Dinev: In Österreich lernt man sehr schnell die Gesetze und Gott sei Dank gleichzeitig auch die Menschen kennen. Wenn du nur die Gesetze kennen würdest, würdest du scheitern. Das ist das Besondere und das ist, was mich immer interessiert hat: Warum handeln die Menschen nicht nach den Landesgesetzen? Aber das ist das Schöne, sie tun nicht immer das, was der Staat von ihnen verlangt und dadurch sind auch Existenzen wie die meine möglich. Das hat mich immer beeindruckt, dass es doch jenseits des Gesetzes so viele Ressourcen gibt. Ressourcen an Barmherzigkeit, die eine andere Existenz ermöglichen.
Beides habe ich wahrgenommen. Ich habe wahrgenommen, wie die Gesetze von Jahr zu Jahr immer unmöglicher und unmenschlicher wurden, was Leute wie mich betrifft. Aber dann habe ich auch die Menschen getroffen, die ich sonst wahrscheinlich nie kennen gelernt hätte, weil ich nie in dieser Not gewesen wäre. In meiner Heimat wäre ich vermutlich nie in die Situation gekommen, dass ich ihrer Hilfe bedarf. Das Positive ist, dass eben diese Freundschaften, die man in einer solchen Situation schließt wirkliche, erprobte Freundschaften sind und nicht geerbte oder vergangene Freundschaften, die man vorher als Freundschaften betrachtet hat, die aber nie geprüft worden sind.
ausreißer: Wie Gewohnheiten?
Dinev: Ja, Gewohnheiten. Die Freundschaften, die hier begonnen haben, diese Menschen haben dich akzeptiert obwohl du keine Geschichte hast in diesem Land. Wenn du keine Geschichte hast, dann kannst du alles sein. Du kannst ein Mörder sein, du kannst der größte Verbrecher sein.
ausreißer: Ist man dann ein Mensch ohne Vergangenheit?
Dinev: Ja, in gewisser Weise bist du eine Weile ohne Vergangenheit. Und du bekommst so ein Vertrauen. Es verlangt einfach großes Vertrauen einen Menschen ohne Vergangenheit zu akzeptieren und dass ist etwas Außergewöhnliches und Schönes.
ausreißer: Sie haben nach Ihrer Flucht nach Österreich hier studiert, sich mit verschiedensten Arbeiten über Wasser gehalten und nebenbei noch geschrieben. War das nicht eine sehr anstrengende Zeit für Sie? Bzw. welcher Arbeit sind sie am liebsten nachgegangen?
Dinev: Also es gab schon Arbeiten die man lieber hatte. Am Anfang macht man jede Arbeit gern, weil es etwas Neues ist und man neue Personenkreise kennen lernt. Es hängt immer von den Leuten, vom Arbeitsklima ab, wie gern man eine Arbeit macht. Aber es gibt schwere Arbeiten, die einen wenn man sie 20 Jahre ausübt, zum körperlichen Wrack machen. Es ist sicher nicht leicht, immer auf Baustellen zu arbeiten. Irgendwann ist dein Körper auch ruiniert, dann kannst du den Job gar nicht mehr machen.
Es gab Arbeiten, die ich besonders gern gemacht habe. Restaurator war eine sehr interessante Tätigkeit, man hat mit sehr schönen Gegenständen zu tun und mit viel Geschichte, denn jeder Gegenstand hat seine Geschichte die über die Jahrhunderte geht. Ich habe mit alten Techniken gearbeitet, z.B. Vergolden wie vor 300 Jahren. Gut ist eine Arbeit, wenn man auch schreiben will, wenn sie einen nicht zu sehr erschöpft. Irgendwann, egal wie interessant eine Arbeit ist, muss man darauf achten, dass man die Kraft hat sich zu motivieren noch etwas anderes zu tun, etwas, das einem wichtiger ist. Und man nicht sagen muss: So, das war’s dann!
Aber dadurch, dass ich das Schreiben am Meisten gefühlt habe, habe ich darauf geachtet, dass ich diese Tätigkeit weiter ausüben kann. Aber es ist eine wichtige Erfahrung gewesen so vielen verschiedenen Tätigkeiten nachzugehen, viele Welten…
ausreißer: …viele Menschen…?
Dinev: … ja das meine ich ja. Viele Perspektiven, viele Gedanken von Menschen aus verschiedenen Ländern, was sie alles gedacht haben und was gefühlt, das war eine Erfahrung, für die ich dankbar bin.
Auf der Uni trifft man ebenfalls viele Menschen und viele müssen auch arbeiten, es sind ja nur die Wenigsten, die das Privileg haben, nicht arbeiten zu müssen und schnell studieren zu können.
ausreißer: Immer wieder hört in man „Straßeninterviews“, dass Österreicher sich, in Bezug auf Einwanderer, wünschen, dass diese sich mehr anpassen würden. Sie haben einmal – im Zuge eines Interviews am Opernball 2007 – gesagt, man soll sich nicht zu sehr assimilieren lassen. Hat man in Österreich einen starken Anpassungsdruck? Äußerlich, als auch in Bezug auf das Verhalten?
Dinev: Ich glaube, am liebsten wäre es den Leuten, wenn man sich unsichtbar macht. Um das geht es, nicht? Ich glaube, sie wollen es nicht bemerken. Ich kenne auch Leute, die überhaupt keinen Akzent haben, die schon hier aufgewachsen sind, aber z.B. asiatisch ausschauen und die Menschen, mit denen sie reden, haben das Gefühl sie hören einen Akzent. Aber sie hören keinen, sondern sie sehen ihn.
So gesehen wird dieser Druck erst dann konkret, wenn man schaut, wie die neuen Gesetze sind. Dass die Regierung z.B. nur Leute annehmen will, die schon Deutsch können. Von Seite des Gesetzes gibt es diesen Assimilationsdruck schon; wenn man schon über Deutschkenntnisse verfügen muss oder wenn man bei einem Studentenvisa auch schon Studienerfolge nachweisen muss etc. Was aber das Bizarre an der Geschichte ist – wieso wird soviel von mir verlangt, aber ich habe keine Vorteile davon? Hab ich dann die gleichen Rechte? Darf ich dann wählen? Was darf ich mehr, wenn ich all das leiste was verlangt wird? Was sind dann meine Vorteile in der Gesellschaft? Das ist sehr wenig. Leute, die sich in der Hierarchie nach oben bewegen, verrichten immer noch die dreckigsten Jobs und die Arbeiten, die keiner machen will.
Das geht so weit, dass im Falle eines Autors, wie ich es bin, der schon auf Deutsch schreibt – und da ist eine Stufe der Integration erreicht, da kann man sagen was man will, aber mehr geht jetzt nicht mehr, denn das ist die Sprache die schon in der Schule gelehrt wird, die zu einer Identitätsstiftung führt – sofort Preise und Schubladen gemacht werden, für Autoren mit nicht-deutscher Muttersprache. Man ist dann ein Migrantenautor. Was soll das bedeuten? Sofort ist man wieder ausgeschlossen! Wenn man sich solche Begriffe aus der Politik ausleiht – und so ein Begriff ist in der Politik eindeutig negativ besetzt – dann ist es, wenn man ihn in die Literaturwissenschaft übernimmt, ein diskriminierender Begriff. Sogar wenn du die höchste Integrationsstufe erreichst wirst du sofort wieder diskriminiert und wieder getrennt. Da bedarf es noch viel Überlegungen und Arbeit. Man kann sich das in anderen Ländern anschauen, die eine längere Migrantengeschichte haben, wie diese damit umgehen, damit nicht so negative Begriffe zustande kommen, die man dann nie mehr aus dem Bewusstsein verbannen kann. Es reicht, dass jemand Migrantenautor hört, damit er das Buch nicht kauft. Was soll das sein, Migrantenliteratur? Was ist das? Ich schreibe über Menschen, ich schreibe nicht über Migranten, ich schreibe über Menschen die geboren werden und die sich verlieben und sterben. Ich schreibe über Machtverhältnisse und Ohnmacht. Und wenn man das verkehrte Beispiel nimmt, wenn ein österreichischer oder deutscher Autor über Österreicher oder Deutsche schreibt, die nach Amerika reisen, würde man das nicht als Migrantenliteratur ansehen. Das ist dann ein Abenteuerroman oder was auch immer. Das ist so ein unglücklicher Begriff wie Frauenliteratur, mit dem man gar nichts anfangen kann, sondern der nur pejorativ ist.
ausreißer: Brauchen Menschen Schubladen in die sie andere einordnen können?
Dinev: Die Menschen machen es sich sehr leicht. Man braucht schon Gemeinplätze, Schubladen usw., aber man kann sie sich vielleicht raffinierter ausdenken und nicht so brutal einfach, wie es die Zeitungen machen. Das ist das Beschämende, oder? Dass man sich die Begriffe der Wissenschaft ausleiht. Und das ist es auch, was mich beunruhigt. Natürlich braucht man Orientierung, das ist klar. Klar, die Wissenschaft braucht auch neue Themen, es wird ständig von etwas Neuem berichtet, aber ist es das, was wir daraus machen?
ausreißer: Wie schätzen Sie da den Einfluss der Medien ein?
Dinev: Die Macht der Medien ist unglaublich. Ich hab das Gefühl, es gibt in Österreich keine Opposition. Das ist so vereinzelt. Es existiert eine Flut von Vorurteilen. Die einflussreichsten Zeitungen kennen wir ja alle, wie die Kronenzeitung. Was dort geschrieben wird, wird oft auch als Wahrheit betrachtet. Dem Menschen wird vermittelt, er braucht nicht mehr zu prüfen, was in den Zeitungen steht, er braucht nicht mehr denken, er soll es lesen und das ist es schon – das ist die Meinung in Österreich.
ausreißer: Müssen die Leute erst wieder zwischen Meinungen und Fakten unterscheiden lernen?
Dinev: Ja, das sicher. Sie verwechseln Erkenntnis mit Meinung. Zu Erkenntnis zu gelangen erfordert viel Geduld und es ist ein langer Weg dorthin. Aber was diese Zeitungen machen – sie verkürzen den Weg, vermitteln den Eindruck, man brauche den Weg gar nicht, nur diese paar Seiten lesen, dann weiß man alles über die Welt. Es ist eine zu starke Vereinfachung.
Ich glaube es ist so: Die Geduld ist keine Tugend mehr in dieser Gesellschaft. Man verlangt sofort nach schnellen Antworten, nach einer Meinung. Kaum passiert etwas, fragt man irgendjemanden und der soll dann gleich die richtige Antwort geben. In diese Richtung hat sich alles entwickelt. Vielleicht, weil das Politische längst von der Wirtschaft, von ökonomischen Zwängen ersetzt wurde. Ich frage mich, warum wir Politiker brauchen. Es reguliert ja alles der Markt. Dieser Versuch, das Geld gerecht aufzuteilen, ist gescheitert, der Markt reguliert sich von selbst und er ist nicht gerecht.
ausreißer: Ganz von selbst reguliert sich ein Markt ja auch nicht, es sind Menschen dahinter, Konzerne, die diesen Markt regulieren…?
Dinev: Jaja, eh klar. Aber das ist dieses Ideal einer liberalen Wirtschaft, die gar nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Aber zurück zu den Medien, die haben ja eine unglaubliche Präsenz und unglaubliche Macht in Österreich.
ausreißer: Spürt man das auch?
Dinev: Ja, man spürt es. Man hört fast die Zitate aus den Zeitungen. Sie sind so präsent in der Meinungsbildung. Wenn eine Zeitung anders berichten würde, würde sich vielleicht auch die öffentliche Meinung ändern. Es ist wie bei einem Wahrsager: Wenn eine Zeitung nach einem bestimmten Ereignis in einer bestimmten Haltung berichtet, dann geht die öffentliche Meinung in diese Richtung. Es ist wirklich so manipulativ! Man spürt es umso mehr, wenn man betroffen ist. Wenn man nicht betroffen ist, dann ist es einem egal.
ausreißer: Sie haben vielleicht vom in Graz diskutierten Bettlerverbot gehört. Wo für die einen Fremden, die Touristen, die Stadt dadurch schöner werden soll, dass die anderen Fremden, die Bettler, aus dem Stadtbild verschwinden…?
Dinev: Es ist immer eine Frage des Geldes. Wenn ich mit einer Million Euro nach Österreich komme, dann bin ich kein Migrant und kein Fremder. Da ändert sich die Meinung. Es ist fast ärgerlich einfach. Über die Bankdirektoren, die aus der Schweiz oder sonst woher hierher kommen und die großen Posten besetzen, ärgert sich niemand, weil sie Ausländer sind, die Arbeitsplätze wegnehmen. Es ist ein Zynismus, wenn ein Bettler verbissen bekämpft wird und im gleichen Zug bestraft man nicht diejenigen, die für die Krise verantwortlich sind, sondern überlegt oft noch, welche Prämien sie bekommen sollen, um ihnen den Arbeitsplatz in Österreich angenehmer zu gestalten. Nach dem sie all das verschuldet haben! Wie soll man da noch an eine Gerechtigkeit glauben? Also du kannst stehlen soviel du willst und das Geld anderer verpulvern und dir geschieht nichts, aber jemand der einfach dasteht und seine Not zur Schau stellt, egal was er auch will, auch wenn er Teil einer Gruppe ist, wird bekämpft. Es ist lächerlich, in der Dimension, in der es sich bewegt. All das verlangt nach einer wohl überlegten Lösung. Die Frage ist: Sind die, die das Geld verspekuliert haben nicht schuld daran, dass es diese Bettler gibt, dass diese jetzt hierher kommen? Wenn es so weiter geht, werden sie sicher schuld daran sein, dass auch wir eines Tages betteln müssen, wenn wirklich eine große Krise kommt. Das habe ich in Bulgarien erlebt, das wünsche ich keiner Gesellschaft, so eine Inflation, wo das Geld von heute auf morgen nichts mehr wert ist. Und dann sind alle vor einem Neuanfang, dann schaut es ganz kritisch aus in einer Gesellschaft. Es ist traurig, wenn sie sich darüber nicht früher bewusst wird und sich nicht zu wehren beginnt, dagegen dass nichts unternommen wird und niemand sagt: Etwas stinkt da gewaltig! Aber natürlich ist da noch der Trost, dass jeder ein bisschen Eigenkapital auf der Bank angesammelt hat und solange es diese Beruhigung gibt, muss man nicht handeln. Aber irgendwann, wenn es immer weiter schmilzt – und alles deutet in diese Richtung – wenn alle Gehälter immer kleiner werden und die Menschheit in Europa immer älter, dann ist auch dieses Geld eines Tages aufgebraucht.
[1] Im Antlitz des Anderen sieht Levinas das entscheidende Phänomen, das das Tor zum Anderen öffnet, vom Antlitz geht der Appell aus, für den anderen Verantwortung zu übernehmen. Das Antlitz enthält den Appell: „Du wirst mich nicht töten.“ Dies stellt jene Grundforderung dar, die aller Humanität, aller Gerechtigkeit gegenüber dem Anderen zugrunde liegt. (vgl. Peter Kampits, Das Eigene und das Andere, In: Die Presse, 26.07.2008)