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ausgabe #81.prosa. kerstin meixner

in nachbars garten


Sonnenbrille runter. Augenbrauen rauf. Pause. »Mäht der?« 
 
Finger zwischen die Seiten. Buch zu. Nicken. »Der mäht.«
 
Er schiebt die Sonnenbrille über die Nase zurück zu den Augen und lehnt sich in seinem Sonnenstuhl nach hinten. Sie schlägt das Buch wieder auf und liest weiter.
 
Seite fünfundsiebzig, wenig später.
 
»Es stört aber schon - - dieses ständige Aufheulen.«
 
»Das ist doch viel eher ein beständiges Brummen. Das hört man ja kaum.«
 
Er dreht sich auf die Seite, ihr den Rücken zugewandt, und presst das Kissen unter seiner Schläfe mit unnötiger Kraft in Form. Sie ignoriert die demonstrative Unruhe auf der Liege neben sich bis Seite achtzig, dann hält sie die Misshandlung des Kissens nicht mehr aus. 
 
»Pass nur auf, dass du die Schnittchen nicht runterschmeißt. Bei dem Rumgerödel.«
 
Ein Blick über die Schulter, am eigenen Körper herunter, den Abstand zwischen Arsch und Käseplatte abmessend. Dann anklagend nach drüben.
 
»Da ist noch jede Menge Platz.« 
 
»Na dann.«
 
Für fünf Minuten sagt der Rücken gar nichts mehr, dann wälzt er sich zurück auf die Liege und wird wieder ein Gesicht mit Sonnenbrille.
 
»Aber es ist Sonntag.«
 
»Mann, bist du deutsch!«
 
Er richtet sich so ruckartig auf, dass der Teller zwischen ihnen mit den Schnittchen und den Gewürzgürkchen nun doch ins Wackeln gerät.
 
»Was soll denn das jetzt bitte heißen? Mann, bist du deutsch?« 
 
»Gar nichts. Vergiss es einfach.«

Sie drückt die Fingerspitze gegen den Nasenbügel ihrer Sonnenbrille, bis ihre Augen verschwinden. Er fragt sich, was sie damit verbergen möchte.
 
»Das werde ich jetzt nicht einfach vergessen. Ich will das sofort wissen, was das heißen soll, wenn du das sagst: Mann, bist du deutsch.«
 
»Du musst doch bitte nicht immer alles gleich über-analysieren… ich habe doch nur gemeint… was man eben so sagt… über die Deutschen und Ordnung.«
 
Er schweigt und fragt sich, wo die friedliche Sonntagsstimmung hin ist, die bis eben noch zu spüren war. Mit Ausschlafen bis kurz vor Mittag und Frühstücken in alten Bademänteln, ohne sich dabei unattraktiv zu fühlen.
 
Sie sitzt neben ihm und eigentlich bereut sie ihre Worte. Er ist ja gar nicht so ordentlich. Als sie sich vor fünfzehn Jahren kennengelernt haben, ist er noch Bassist in einer Band gewesen und nebenbei auch irgendwie Student. Heute geht er sechs Tage in der Woche in den Laden und verkauft Gitarren, die er selbst nicht mehr spielt.
 
Sollte sie sich entschuldigen? 
 
Sollte er etwas sagen?
 
Er sagt etwas.
 
»Also, ich bin es nicht, der in der Sonne liegt und Goethe liest - - Goethe!« - mit Nachdruck - »wenn DAS nicht deutsch ist, dann weiß ich auch nicht.«
 
Finger rein. Seite siebenundachtzig. Buch zu.
 
»Willst du damit etwa sagen, wenn Goethe heute lebte, würde er jetzt rübergehen und sich bei dem Rasenmähermann da nebenan beschweren, weil der sonntags mäht?«
 
»Genau das wollte ich sagen. Damit.«
 
Er weiß, dass er sie provoziert, aber er hat Goethe noch nie gemocht. Den kann er opfern. Sie schüttelt den Kopf und lacht ihn aus.
 
»Das ist doch albern«, sagt sie außerdem, falls er ihr Lachen nicht verstanden haben sollte.

»Ist es gar nicht«, besteht er, »und selbst, wenn doch. Dass etwas albern ist, sagt man nur, wenn man sonst keine Argumente hat.« 
 
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und wundert sich, wo diese Diskussion wohl enden wird.
 
»Vielleicht habe ich keine Argumente, aber Goethe – Goethe ist auch keins.«
 
»War ja klar, dass das jetzt kommt. Den Spießer verteidigst du also, aber mich – mich greifst du so von der Seite an. Und außerdem höre ICH gerne Beethoven. Beethoven würde sich nicht beschweren.«
 
Sie ist entrüstet über so viel Dreistigkeit. Entrüstet und ein wenig beeindruckt. Aber die Entrüstung siegt.
 
»Der war ja auch taub - - also, BEETHOVEN kannst du jetzt wirklich nicht ins Feld führen.«
 
»Ist doch vollkommen egal, ob er taub war. Es geht da ums Prinzip.«
 
»Und das ist schon wieder so richtig deutsch.«

Er sinkt zurück auf sein Kissen. Wenn einen nicht einmal mehr Beethoven rettet, was waren dann all die Klavierstunden schon wert, die man durchlitten hat.
 
Die Sonne hat mittlerweile fast ihren höchsten Stand erreicht. Schatten wäre jetzt gut, finden sie beide. Schatten bedeutet Auszeit. Aber nur im Garten ihres Nachbarn stehen Bäume.
 
»Und wenn ich das denn bin – so deutsch – warum liegt es dann an dir, dass wir im Urlaub nie einfach mal bei fremden Leuten Couchsurfing machen können?«
 
»Wir sind alt genug für ein Hotel.«
 
Er lehnt sich ihr über die Schnittchen und die Stuhllehne entgegen. 
    
»Gib es einfach zu. So deutsch wie du groß geworden bist – du würdest am liebsten einen förmlichen Antrag stellen, bevor du irgendwo anders hin zum Übernachten fährst.«
 
»Ziehen wir jetzt noch unsere Eltern mit rein, ja?«
 
Er schüttelt sofort den Kopf. So stark, dass ihm beinahe die Sonnenbrille von der eingecremten Nase rutscht. Das hier darf nicht noch weiter ausufern.

»Ich meinte nur, das wäre schon mal schön. Nicht immer nur so im Hotel, sondern – - man lernt ein Land einfach ganz anders kennen, wenn man mit den Leuten da direkt zusammen ist.«
 
»Dann probier es doch aus, wenn du das möchtest. Auf mich musst du sicher keine Rücksicht nehmen. Ich bleibe lieber hier und lese.«
 
Sie hält Goethe hoch, er hätte gerne etwas von Beethoven in der Hand. Hat er aber nicht.
 
»Vielleicht mache ich das auch. Warum auch nicht? Wenn ich dir ohnehin zu Deutsch bin. Am Ende schämst du dich noch, weil ich Socken in Sandalen trage.«
 
Sie beide wissen, dass er das nicht tut. Zumindest nicht das mit den Sandalen und den Socken. Alles andere erscheint auf einmal erschreckend offen - -
 
»Na gut, dann mach das halt. Such dir deine Gratiscouch. Und wenn dann der Nachbar da - in deinem Urlaubsort - am Abend nach einundzwanzig Uhr noch die Waschmaschine anmacht, vielleicht gehen deine Gastgeberin und du dann gemeinsam rüber und ihr zwei pfeift ihn so richtig schön zusammen. So aus Prinzip.«
 
Er blickt sie fassungslos an.

»Ich würde doch nie - also, ich meinte doch nicht – - das sollte doch nicht heißen, dass ich bei – oder mit - einer fremden Frau - -«
 
»Was weiß denn ich.«
 
Die Lust auf Goethe ist ihr vergangen. Sie schlägt das Buch zu, ohne die Seite zu markieren, auf der sie gewesen ist, und verschränkt die Arme demonstrativ im Nacken, während sie hinüber zur Hecke starrt, die zu schneiden sie vergessen haben, bevor die Jungvögel in den Nestern begonnen haben, sie zu besiedeln.
 
»Es tut mir leid«, versucht er es vorsichtig in ihre Richtung.
 
»Ich finde es schön, dass du so denkst«, sagt sie und lächelt etwas.
 
Sie liegen nebeneinander und wissen nicht, ob die Stimmung zwischen ihnen wieder entspannt ist. Vielleicht müssten sie ihre Bademäntel anziehen, um zu gucken, ob sie sich unattraktiv fühlen. 
 
»Ich dachte eben nur, ich sag es dir lieber jetzt, bevor wir auf einmal alt sind und dann stehe ich eines Tages neben dir am Fenster und merke, dass es mich schon seit Jahren stört, dass du dich darüber aufregst, wenn der Nachbar sonntags mäht. Entschuldige, wenn der Ton nicht der richtige war.«

»Nein, nein. Es ist sehr richtig, dass du das getan hast«, murmelt er von seiner Liege und denkt an seine Eltern, die sich beide darüber echauffieren würden, wenn ihr Nachbar heute draußen wäre und einen solchen Krach machte. Plötzlich fragt er sich, ob sie sich wirklich daran stören oder ob sie nur nach einer Gemeinsamkeit suchen, um sich im Sommer nicht miteinander im Garten zu langweilen. »Danke für deine Ehrlichkeit«, schiebt er seinen Gedanken als Abschluss hinterher.
 
Die Sonne hat ihren Zenit in der Zwischenzeit überschritten. In der Hecke schreien die Vogelkinder nach ihren Eltern. Abwechselnd kommen Mutter und Vater geflogen und stopfen ihnen die Schnäbel mit Würmern. 
 
»Schön, so viel Leben«, sagt sie.
 
»Ja«, antwortet er. 
 
Sie liegen auf ihren Sonnenstühlen nebeneinander und wissen nicht, was sie sich ansonsten noch sagen sollen. Der Rasenmäher verstummt. Sie greifen zu den Schnittchen zwischen sich. Die Gewürzgürkchen schmecken sauer.


Kerstin Meixner

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