ausgabe #66. prosa. claire walker
Mitten auf der Insel
Den ganzen Morgen schleppe ich mich schon mit Säcken voll Blumenerde ab und frage mich langsam, warum ich mir die Ferien damit versaue. Nicht mal den Gabelstapler darf ich fahren, immer nur abladen, dabei tut mir jetzt schon alles weh. Zum Verschnaufen setze ich mich kurz auf den Stapel Säcke und schaue mich um. Bei den Pflanzenkübeln steht ein Mädchen, schätze, sie ist etwas älter als ich. Unentschlossen starrt sie auf die Blumentöpfe. „Welche würdest Du nehmen?“ ruft sie mir zu. „Die Blauen“ antworte ich. „Danke!“ sagt sie, schnappt sich zwei davon und klettert blitzschnell über den Absperrzaun nach draußen. „Halt!“ brülle ich, laufe zum Zaun, sie zwinkert mir noch einmal zu und macht sich davon. Verdammt, was jetzt, soll ich zum Chef laufen oder selbst hinterher? Etwas später finde ich ihre Spur durch ein paar verloren gegangene Blütenblätter, da kommt ihre Silhouette in Sicht. Sie scheint unermüdlich, läuft fröhlich weiter, mein Herz hingegen rast, ich keuche heftig und befürchte, gleich schlapp zu machen. Dann wird sie sich am Horizont verlieren und ich mich fragen, ob ich das eben nur geträumt habe. Doch da bleibt sie stehen, wirft mir ein paar Blütenblätter entgegen und lacht so ansteckend, dass es eine ganze Weile dauert, bis wir uns wieder einkriegen. Sie mustert mich neugierig, und ich möchte etwas sagen, aber mir fällt nichts ein, denn ich kenne sie ja nicht. „Hast Du Zeit?“ fragt sie, und ich nicke, obwohl ich längst zurück zum Baumarkt müsste. Aber der Tag ist so unerwartet schön, die Sonne kitzelt, die Flugzeuge hinterlassen Zickzacklinien im Blau, und auf einmal ist mir das Moped, für das ich hatte sparen wollen, so vollkommen egal.
„Wie heißt du?“ frage ich. „Wie Du willst“, antwortet sie. Und obwohl ich lieber ihren echten Namen wüsste, platzt mir „Lulu“ heraus, ich weiß auch nicht, warum. „Lulu“, wiederholt sie langsam, runzelt die Stirn aber nickt dann. „Warum nicht!“ „Jetzt Du!“, sage ich. „Max!“ sagt sie und ich zucke zusammen. „Wie, Max… Woher weißt Du das?“ frage ich. „Telepathie!“ Sie grinst. „Wie hast Du das gemacht?“ frage ich. Sie lacht. „Dass Du nicht von selbst drauf kommst!“ Als ich sie weiter fragend anstarre, zeigt sie auf mein Namensschild vom Baumarkt. Verdammt, was bin ich für ein Idiot. Aber trotzdem ist es nicht gerecht, dass sie jetzt meinen Namen weiß, ich ihren aber nicht. „Jetzt sag schon!“ „Lulu!“ „Klar…“ Ich drehe mich um, will zurück zum Baumarkt, doch sie holt mich ein. „Ist doch egal! Lulu passt viel besser“! sagt sie und lächelt dabei schon wieder so ansteckend. Wir lassen das Gewerbegebiet hinter uns und erreichen den großen Kreisverkehr, auf der die Autofahrer wie getrieben die Spuren wechseln. „Komm, wir gehen rüber“, sagt sie und zeigt auf die Mittelinsel. Ich schaue skeptisch, und da drückt sie mir die Töpfe in die Hand und winkt den Fahrern. Als keiner reagiert rennt sie einfach los, als sich eine Lücke auftut. Ein Auto bremst scharf, mehrere hupen. Ich nutze die Verwirrung, um Lulu zu folgen. Sie lässt das zerfledderte Gras, hochgewachsene Brennnesseln und ein Dickicht aus kleinen Büschen hinter sich und macht einen Handstand gegen die Pfeiler der Autobahnbrücke. „Uh, was ist das denn!“ brüllt sie und schüttelt zwei schwarz-rot gefleckte Käfer von ihren Händen. Im Gras laufen Dutzende davon herum, am Hinterteil verbunden. „Die haben Sex“, sagt sie kichernd und schaut mich an. Ich lächle verlegen, beuge ich mich schnell vor und stelle die Töpfe ab. Einen Moment bleibt mein Blick im Gras hängen. Verdammt, das ist so was von albern, wegen Käfern rot zu werden! Egal ob sie nun Sex haben oder nicht! „Spanner!“ ruft Lulu und schubst mich, ich kippe um und bleibe liegen. Wie weit der Himmel ist, endlos Blau, mit langen Streifen, Wege ins Nirgendwo… Lulu legt sich neben mich ins Gras, breitet ihre Arme aus uns schließt die Augen. Und obwohl lauter Käfer über uns hinweg krabbeln, will ich um keinen Preis der Welt wieder aufstehen, sondern einfach nur liegen bleiben, von mir aus, bis wir von Moos überwuchert sind. Ich betrachte Lulu, wie sie ruhig atmend daliegt, die Augen geschlossen, die Hände im Gras. Ihre Nase biegt sich neugierig nach oben, ihr dunklen Wimpern vibrieren leicht im Wind und die vielen Sommersprossen lassen sie ein wenig verwegen aussehen lassen.
Wart ihr schon einmal so richtig, richtig glücklich? So dass es in Euch summt, als wäre da ein Bienenschwarm? Kennt ihr das? Dass man glücklicher ist, als man es jemals war und es wahrscheinlich nie wieder sein wird? Eine einzige Minute von diesem Glück lässt die Ewigkeit zusammenschrumpfen, so uferlos ist es, man will, dass es niemals aufhört, oder alternativ einfach alles aufhört, ganz plötzlich, mit einem lauten Knall! BUMM! Das Leben, das Denken, das Zweifeln, alles wird weggefegt durch etwas Großes, Gewaltiges, etwas, das mindestens so groß ist wie dieses Glücksgefühl, oder noch größer, noch gewaltiger, vielleicht sogar gewalttätig, wie ein Schuss oder eine Bombe…
Ich stelle mir vor, wie wir dort oben auf der Autobahnbrücke Motorrad fahren, Fahrtwind kribbelt auf unseren Gesichtern, Lulus Haare fliegen in alle Richtungen und sie hält sich an mir fest. Endorphine verschleiern unseren Blick, darum kommen wir von der Fahrbahn ab, fliegen über die Leitplanke, schleudern durch die Luft, brechen uns den Hals und sterben von Glück zerschmettert mitten auf der Insel.
„Genug geträumt, an die Arbeit!“ ruft Lulu und schüttelt mich. Sie drückt mir einen Blumentopf in die Hand.
„Du bist doch sicher Profi! Fang schon mal an!“ „Was?“
„Ich will die Wiese voller Blumen sehen, und Tomaten oder Brombeeren dazwischen! Wir können hier alles verändern, glaub mir!“ Die Idee gefällt mir, also nicke ich und wir beginnen, den Boden abzutasten, suchen nach Stellen, die feucht und weich sind, graben unsere Hände tief in die Erde. Und dann schauen wir sie stolz an, die blauen Blumen, die der Anfang sein sollen von etwas Großen, auch wenn ich befürchte, dass sie hier draußen gleich wieder eingehen. Durch eine Verkehrslücke schlittern wir zurück aufs Festland, Lulu bestellt am Kiosk Kaffee, „schwarz“ betont sie. Und obwohl ich weiß, dass der Kaffee hier immer abgestanden schmeckt, sage ich nichts. Und dann schmeckt der Kaffee auf einmal ganz anders, ungewohnt bitter und würzig, nach Adrenalin und Abgasen, und ein bisschen so, als könnte wirklich etwas anders werden. Ich betrachte Lulu, wie sie am Becher nippt und den Kaffee in ganz kleinen Schlucken trinkt, als wäre er eine Kostbarkeit. Und ich muss daran denken, wie lange ich mir schon gewünscht habe, dass das alles hier, alles, was mir so schrecklich vertraut und abgenutzt vorkommt, endlich einmal anders aussieht… So wie heute… Durch ein Wunder, durch Lulus Guerilla Gardening oder einfach, weil sie in dieser Minute neben mir sitzt. Vielleicht weil vier Augen Dinge anders sehen können als zwei, und Blicke, die sich kreuzen, manchmal etwas reflektieren, was man bisher übersehen hat. Und so riecht die Luft heute nach Ferne, an diesem Ort, der in alle Richtungen zeigt, zur Autobahn, in Richtung Flughafen, bis in die weite Welt. Die Motoren rauschen, Reifen wirbeln trockenen Staub auf und der Fahrtwind fegt durch den bleichen Rasen. Alle müssen hier immer nur weiter, und niemand verweilt, außer uns. Und so fühle ich mich ein bisschen wie ein Anderer, obwohl ich ja noch Max bin. Lulu fragt, wohin ich fahren würde, wenn ich die Wahl hätte, jetzt sofort, aber ich will heute nicht darüber nachdenken, nicht über diese vielen Dinge, die man sich wünscht, so lange, bis es weh tut, und auf die man viel zu lange warten muss, weil man noch nicht 18 ist, weil das Geld nicht reicht, weil sie zu weit weg sind oder man stattdessen etwas anderes muss… Und dann wartet man, bis es zu spät ist, bis man längst vergessen hat, was man einmal wollte. Das alles möchte ich Lulu sagen, doch dann fällt mir auf, dass ich in diesem Moment auf gar nichts warte und auch gar nichts vermisse, und so schweige ich einfach und Lulu hört zu.
Claire Walker