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ausgabe #65. kolumne. wofgang bauer im gespräch mit evelyn schalk

red line. vom glück des offenen visiers

Medienmenschen im Gespräch: Wer macht die Story hinter der Schlagzeile?


Er hat berichtet, als die syrischen Städte Homs und Aleppo zu Schlachtfeldern wurden und kaum mehr ein/e westliche/r ReporterIn es wagte, vor Ort zu bleiben. „Die Welt kann Syrien seither nur noch unscharf sehen, verwackelt und grob gepixelt. Die Handyfotos der Demonstranten aus Damaskus und Homs wirken so weit entfernt wie die Aufnahmen, die NASA-Roboter vom Mars zur Erde funken. Als sei Syrien plötzlich aus der Welt gefallen.“ Dagegen schreibt Wolfgang Bauer an, gegen das Aus-der-Welt-fallen ganzer Städte und Regionen – und damit der Menschen, die in ihnen leben. Gegen die Ignoranz ihrem Leid gegenüber und seinen Verur­sachernInnen. Es ist diese Unmittelbarkeit, die radikale Nähe, in die er sich begibt, der er sich mit allen damit verbundenen Gefahren aussetzt, die seinen Texten ihre immense Eindringlichkeit verleiht. Bauer nimmt sich Zeit, mit jenen, von denen seine vielfach preisgekrönten Reportagen handeln, zu sprechen, zu leben, zu sein. Denn es sind immer die Menschen selbst, die im Zentrum seiner Geschichten stehen. Das gilt für die Schmuggler, mit denen der Krisenreporter der Wochenzeitung Die Zeit durch die Tunnel unterm Gaza-Streifen gekrochen ist ebenso wie für die BewohnerInnen eines von Nazis de facto übernommenen Dorfes, die er in einem Wirtshaus in Vorpommern trifft, aber auch für die todkranken Arbeiter, deren Leiden er dokumentierte, fatale Folgen ihrer Schinderei in den Fabriken internationaler Konzerne in China. Wolfgang Bauer kann nicht nur schreiben, er kann vor allem zuhören und hinschauen. Seine Reportagen sind so präzise wie schmerzhaft und lassen dem/r LeserIn keine Chance auf Gleichgültigkeit.
Im vergangenen Jahr trat er eine Reise an, auf die sich täglich Tausende begeben und die für unzählige von ihnen tödlich endet. Bauer hat sich mit einem syrischen Flüchtlingsboot aufgemacht, um am eigenen Leib zu erfahren, was die Festung Europa jenen antut, die schutz- und hilfesuchend an ihren Grenzen untergehen. „Über das Meer“ weiß er also einiges zu berichten und hat seine Erfahrungen u.a. im gleichnamigen, kürzlich erschienenen Buch festgehalten.
Derart intensive Recherchen sind rar geworden, ein vermeintlicher Luxus, den Medienhäuser und Verlage immer seltener finanzieren wollen oder können. Die fatalen Folgen sind der Verlust von Demokratie, Verständnis und nicht zuletzt der eigenen Glaubwürdigkeit.

Mit Evelyn Schalk sprach Wolfgang Bauer darüber, wie es ihm trotzdem oder gerade deshalb immer wieder gelingt, seine Geschichten zu erzählen, er fordert mehr medialen wie politischen Mut ein und scheut sich nicht, die Angst zu thematisieren, die solche Recherchen begleitet. Mit ihr hat er zu leben gelernt – ebenso wie mit der untrennbare Gleichzeitigkeit von Leid und Glück.


ausreißer: Ihre Recherchen erstrecken sich mitunter über mehrere Monate, aufwändige Reportagen wie jene, für die Sie syrische Flüchtlinge übers Mittelmeer begleiteten, erfordern viel Zeit und damit auch Geld für Vorbereitung und Umsetzung. Wie schaffen Sie es, eine so umfangreiche Geschichte zu realisieren – in Zeiten, in denen das Diktum von Personal- und Ausgabenkürzungen so fundierte Berichterstattung immens erschwert? Waren Ihre Auftraggeber sofort dafür zu gewinnen?
Wolfgang Bauer:
Die waren sofort dabei. Sie haben zwar kein riesiges Recherche-Budget, aber sie setzen Schwerpunkte und für die Geschichten, für die sie sich im Zuge dessen entscheiden, sind sie auch bereit, Geld auszugeben. Diese Recherche wurde also von der Zeit finanziert. Sie geben mir den Freiraum, im Jahr so acht, neun Texte zu machen und lassen mir tatsächlich auch die nötige Zeit, im Schnitt um die eineinhalb Monate, für die einzelnen Geschichten. Dafür bekommen sie dann eben eine Reportage, die kein anderer im Blatt hat. Ich glaube, das ist ein gutes Konzept.

In dieser privilegierten Position befinden Sie sich heute nicht zuletzt, weil Sie sich bereits einen entsprechenden Ruf erschreiben konnten. Wie haben Sie das Problem zeit- und kostenintensiver Recherchen zu Beginn Ihrer journalistischen Tätigkeit gelöst?
Als ich mit Magazin-Geschichten und Auslandsrecherchen angefangen habe, hab ich sogenannte Patchwork-Arbeiten gemacht. Das heißt, ich habe mir unterschiedliche Kunden gesucht, von denen der eine mal 1000 Euro, der nächste 500 Euro Spesen usw. übernommen hat. Von denen hatte ich dann immer vier oder fünf. Hatten die zugesagt, wusste ich, ich würde auf jeden Fall kein Geld verlieren. Gleichzeitig hatte ich noch mein fixes lokales Standbein [Anm.: beim Schwäbischen Tagblatt], so ist die Miete und ein bisschen mehr reingekommen. Später ist es mir glücklicherweise immer gelungen, für Themen, die mir wichtig waren, entsprechende Redakteure zu begeistern, die das dann auch finanziert haben.

In der Regel weiß man, für welches Medium man schreibt, man ist sich Ausrichtung und Blattlinie bewusst. Kam es, gerade bei mehreren unterschiedlichen Auftraggebern, nie zu Interessenskonflikten? Im Sinne der berühmten Schere im Kopf bzw. schon von vornherein zu wissen, wo man bestimmte Positionen unterbringt oder eben nicht?
Nein, eigentlich nicht. Einer meiner Auftraggeber, das ist schon lange her, war damals die IWZ, die Illustrierte Wochenzeitung, die kennt heute keiner mehr, so eine Fernsehbeilage. Die hatten eine Reportage pro Heft und die war natürlich eher unterhaltsam angelegt, also haben sie die schweren politischen Teile immer rausgestrichen, während die anderen, die Tageszeitungen, das drin gelassen haben. Aber ansonsten hab ich es, glaube ich, schon immer ganz gut vermocht, die kritische Ausrichtung der Reportagen schützen zu können. Klar, die eine Redaktion redigiert anders als die andere, davon hab ich in der Vergangenheit aber immer sehr profitiert. Denn das ist wiederum eine Gefahr, wenn du nur für eine Redaktion arbeitest, dass man sich gewissermaßen einander abschafft, dass der Blick abstumpft. Es ist ein schleichender Prozess, dass man sich miteinander nicht mehr so abquälen will.

Sie haben gerade die politische Ausrichtung erwähnt – versuchen Sie gezielt, Ihre Positionen, Haltungen zu vertreten oder gehören Sie zu den VerfechterInnen einer radikalen journalistischen Objektivität?
Mich interessiert zuerst mal die Geschichte, die individuelle Erfahrung, durch die diese Menschen da jeweils grade gehen müssen, während die Politik für mich zunächst nur so mitschwingt. Die Politik holt dich dann während der Recherche ein, unterwegs, unvermeidlich. Oft führt mich die Geschichte erst zur Politik. Aber ich pack' das selten so an, dass für mich erst die Politik kommt, irgendein Grundsatz, und ich für diesen Grundsatz die passende Geschichte suche. Es gibt immer wieder Kollegen, die das machen. Ich finde, das liest man – wenn wir uns jetzt über Reportagen unterhalten –, diesen Reportagen dann auch an. Die sind fleischlos, irgendwie konstruiert und man merkt als Leser, hm, das ist nicht so wie das richtige Leben.

Kommen Sie denn im Zuge der Vorbereitungen zu einer Reportage, wenn Sie Informationen einholen, sich einen Überblick verschaffen etc. überhaupt darum herum, eine Position einzunehmen? Schon allein dadurch, wie sich Ihnen die jeweilige Situation darstellt...
Ich ringe währenddessen! Neulich hatte ich eine Recherche, da hatte ich in einer kleinen Meldung gelesen, dass in Russland am Rande eines Dorfes 251 Föten gefunden worden sind, in Chemietonnen, die von Jungs aufgemacht worden waren, weil sie wissen wollten, was drin ist. Und plötzlich waren da diese vielen Föten, bis zu sechs Monate alt, mit Zetteln an den kleinen Fingern. Dieses Dorf hatte kurz zuvor schon einmal Schlagzeilen gemacht in ganz Russland. Als ich mit Kollegen die Geschichte diskutierte, hatte ich erst mal gar nichts Politisches im Kopf. Aber mich hat dieser Krimi an sich einfach sehr interessiert – was ist die Geschichte von diesen Föten, von diesem Dorf, welche Menschen wohnen da? Im Laufe der Recherche wurde mir klar, dass das eine Geschichte über Abtreibungspolitik und die Lebensbedingungen von jungen Frauen in Russland ist. So kam die Politik rein. Aber zuerst war da der Krimi, der mich fasziniert hat, dieses Rätsel. Diese Geschichte ist nach allen Richtungen hin offen und du musst als Reporter herausfinden, was davon am relevantesten ist.

Noch einmal: Gerade bei einem politisch so brisanten Thema gab es keine Versuche des Eingriffs?
Nein, nicht bei Reportagen. Komplexer sind die Diskussionen schon eher bei Kommentaren. In der letzten Ausgabe [Anm.: Die Zeit 18/2015] beispielsweise hab ich ja den Rücktritt von de Maizière [Anm.: gemeint ist der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière – „De Maizière ist politisch verantwortlich für den massenhaften Tod im Mittelmeer“, so Bauer in seinem Kommentar1] gefordert. Da hatte ich Diskussionen mit Leuten in der Redaktion, die ihn, im Gegensatz zu mir, persönlich kennen. In etwa nach dem Motto, meine Hauptforderung, dass er zurücktreten soll, nicht zu beschädigen, aber in den Details ein bisschen sanfter zu argumentieren. Das hat mit Zensur nichts zu tun, sondern ist eine Debatte unter Kollegen.

Medienkonzentration ist ein, in Österreich besonders ausgeprägtes, jedoch auch international sich kontinuierlich verschärfendes Phänomen, das eine immer stärkere Nivellierung der behandelten Themen bzw. der öffentlich präsenten Perspektiven auf eben diese zur Folge hat. Spüren Sie diesbezügliche Auswirkungen in Ihrer Arbeit, etwa bei der Wahl inhaltlicher Schwerpunktsetzung?
Es gibt natürlich viele Themen, die ich vorschlage, die bei der Zeit weder von der einen noch der anderen Redaktion, also weder von Dossier noch Zeit-Magazin, gewollt werden. Das hat aber, glaube ich, am wenigsten mit einer weltphilosophischen Ausrichtung zu tun, sondern eher mit der Frage: Ist das eine Geschichte? oder: Finden wir die Geschichte so interessant, dass wir sie in diesem langen Rahmen abgedruckt haben wollen oder sind für uns nicht fünf, sechs andere Geschichten interessanter? Das sind ja auch Fragen, die ich mir selber immer wieder stelle. Politisch-inhaltliche Kriterien spielen dabei schon eine Rolle, aber in dieser Form eher selten.

Gerade was die Flüchtlingsthematik betrifft, hat die medialen Darstellung entscheidende gesellschaftspolitische Auswirkungen, Stichwort Boulevard-Hetze, aber auch wie sprachlich damit verfahren wird. So ist es etwa in den letzten Jahren auch in sogenannten Qualitätsmedien gang und gäbe geworden, von 'Flüchtlingswellen' und 'Einwanderungsproblematik' zu sprechen, also Menschen mit Metaphern für Naturkatastrophen zu paraphrasieren. Die diesbezügliche Sensibilität scheint wenig ausgeprägt. Versuchen Sie sich mit Ihren Geschichten dezidiert gegen solche Tendenzen zu positionieren?
In erster Linie erzähle ich einfach die Geschichte, die ich erlebe. Ich versuche, dezent zu erzählen, denn je krasser eine Geschichte ist, desto dezenter muss man sie erzählen, finde ich. Aber die Entscheidung, eine Perspektive einzunehmen, die Entscheidung für eine Geschichte ist ja schon Politik. Die Entscheidung, mit auf diese Flucht zu gehen ist definitiv Politik! Was ich hasse, ist der Begriff des 'konstruktiven Journalismus'. Wieder dieser Thesenjournalismus des Gutherzigen. Das ist einfach Propaganda, was sich dahinter verbirgt, unter Ausschluss ganz vieler Aspekte, die zum Verstehen komplexer Zusammenhänge nötig sind. Ich glaube, die Akzeptanz von Flüchtlingen wird auch nicht dadurch erhöht, dass die Leser oder die Konsumenten von Medien den Eindruck haben, diese würden ihnen vieles verschweigen, viele Probleme ausklammern. Ich glaube, das muss man mit offenem Visier diskutieren, auch von Seiten der Medien gibt es da noch zu viele Berührungsängste.

Wovor konkret? Sich tiefgreifend mit der Thematik zu beschäftigen?
Ja, da müssen wir aufpassen, dass sich diese akademische journalistische Blase nicht abkoppelt vom Mainstream der Bevölkerung. Ich denke, das ist es, was wir dieser Tage ein bisschen erleben. Und es erklärt auch die Resonanz auf rechte Bewegungen wie Pegida, sicher auch die FPÖ und andere, ein wenig – dass Medien viele Ängste einfach ausschließen, nicht thematisieren, weil sie Angst haben, diese Ängste dadurch erst recht zu schüren.

Dominanz von Hetze einerseits und Oberflächlichkeit andererseits münden, oft unter dem Deckmantel sog. political correctness, in Unterlassung bzw. Verhinderung eines breiten öffentlichen Diskurses. Ist das unter diesem Aspekt nicht auch schon wieder Propaganda?
Ja, klar, das meine ich, political correctness ist für mich Propaganda! Es ist ja doch ein ironischer Begriff, denn im eigentlichen Sinne gibt es sie nicht, diese politische Korrektheit. Politik ist immer eine fortwährende Diskussion, was heute als korrekt gilt, ist morgen inkorrekt. Political correctness ist eigentlich ein Unwort. Ich denke, dass wir Journalisten gerade in der Medienkrise, ähnlich wie auch die Politiker, viel zu sicherheitsorientiert sind. Wir wollen immer auf der sicheren Seite sein. Wir wollen auch nicht im Mittelpunkt irgendeiner Kritik stehen, sondern möglichst keinen Leser vergraulen und allen alles lieb und recht machen. Mit dieser Taktik fährt man den Karren natürlich an die Wand.

Die Strategie kann ja auch nicht funktionieren, gerade in Zeiten von Internet, Online-Plattformen...
...ja, genau...

….wo klassische Trennungen von JournalistInnen und LeserInnen als MeinungsmacherInnen aufbrechen. Besonders Printmedien suchen händeringend nach Möglichkeiten, ihre Finanzierung, ihr Bestehen weiter zu gewährleisten. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung?
Was wir haben, ist eine Automatisierungskrise. Das ist einfach technologisch bedingt, so wie das auch mit den Bankschaltern der Fall ist. Was wir in der Landwirtschaft vor achtzig Jahren begonnen und in den Fabriken fortgesetzt haben, das ist jetzt bei den Medien angekommen: dass Technik Arbeitsplätze abschafft, die durch nichts ersetzt werden. Ich bin der Meinung, dass es Paywalls braucht. Ich hoffe, dass bald alle wichtigen und unwichtigeren Medienhäuser sich ihre Angebote wieder bezahlen lassen. Ich glaube, dass die Großen langfristig sicherlich entschlacken, weil sie nicht mehr im selben Maße Werbeeinnahmen bekommen. Klar, wenn man Paywalls aufbaut, gehen die Click-Zahlen zurück und damit die Werbeeinnahmen. Andererseits denke ich, dass z.B. Initiativen wie die eure oder andere super lokale Ansätze dann wieder Möglichkeiten und Bewegungsspielraum in den neuen Feldern schaffen. Das, was es jetzt braucht, ist eine neue Kreativität und eine hohe Disziplin von den großen Medienhäusern. Auch diese Socialmedia-Links, mit denen Paywalls noch umgangen werden, müssen über kurz oder lang zu knacken sein. Ich meine, wenn man den illegal heruntergeladenen Videofilm verfolgen kann und man daraufhin eine Rechnung vom Rechtsanwalt kriegt, dann müsste man das ja auch für einen aufwändig recherchierten journalistischen Beitrag tun können!

Also ein Plädoyer für Paywalls statt freien Zugang zu Medienprodukten?
Ja! Es würde ja auch niemand erwarten, dass man seine Klamotten nicht zu bezahlen braucht. Ich finde es schlimm, dass man einfach einen Artikel, den ich gemacht habe, der anderthalb Monate Zeit gebraucht hat und tausende Euro gekostet hat, inklusive Fotograf und allen möglichen Spesen, die innerhalb der Redaktion angefallen sind, nicht honoriert, dass es den kostenlos gibt, das ist fast schon entwürdigend.

Zurück zu Ihrem Haupteinsatzgebiet, der Krisenberichterstattung. Diese ist immer eine Gratwanderung – wie weit geht Information und wo beginnt Voyeurismus? Das Dilemma von Nähe und Distanz, das auch mit der Frage zusammenhängt, wie weit die eigene Angst vor Ort mit einfließt..?
Die eigene Angst muss immer mit einfließen. Ich versuche häufig, aus der Ich-Perspektive zu berichten, um die eigene Angst und die Einschränkungen, die als Konsequenz damit verbunden sind, transparent zu machen. Voyeurismus ist für mich hingegen etwas, was quasi folgenlos bleibt. Wenn du bei einem Autounfall anhältst und dir das aus dem Schädel gesprengte Gehirn auf der Straße lange anguckst, das ist für mich Voyeurismus. Denn es befriedigt zwar einen Instinkt von dir, aber ansonsten bleibt es folgenlos. Wenn man aber in Gebiete geht und das Leiden der Bevölkerung zeigt, dann hat dieses Zeigen eine ganz konkrete Funktion, nämlich Leute an ihrem Mitempfinden zu berühren und das wiederum hat sehr tiefgreifende politische Konsequenzen. Da kommt's nun schon sehr auf den Standpunkt drauf an, ob man das dann als Voyeurismus sieht... Voyeurismus ist für mich etwas, was nur der eigenen Lust dient, wo du nicht Teil wirst, sondern mit Abstand zuguckst und dich nur selber daran labst. Das ist Krisenberichterstattung per se in den seltensten Fällen.

Wie geht man mit all den Bildern und Erfahrungen um? Schafft man es, diese in einer Form abzukoppeln, um sie aushaltbar zu machen, oder durchs Schreiben in etwas Sinnvolles zu transferieren? Oder kommt man nie weg davon?
Ein bisschen von allem. Im Laufe der Jahre kriegt man so eine Art Widerstand, eine sogenannte Resilienz. Das entwickelt sich automatisch. Wenn sich's nicht entwickelt, dann schreibt man nicht mehr in diese Richtung, sondern über andere Themen, die einem wohler tun. Das Schreiben löst viele Probleme bei mir. Dadurch, dass der Schreibprozess selber für mich ein sehr anstrengender und oft auch qualvoller ist, ist das eine ganz gute Katharsis, um anschließend gereinigter vom Schreibtisch aufzustehen. Ich kann also sehr wohl trennen zwischen der Situation mit Ihnen hier in diesem Hinterhof zu sitzen und jener, in der ich dann in zwei Wochen wieder sein werde. Das habe ich für mich akzeptiert, dass es diese zwei Realitäten gibt und immer geben wird. Daran darf man nicht verzweifeln, denn es ist eine der Wahrheiten des Lebens. In dem Moment, in dem wir uns jetzt unterhalten, stirbt mit Sicherheit jemand im Krankenhaus hier in Graz. Ganz bestimmt hat jemand grade entsetzliche Schmerzen und wir genießen hier unseren Cappuccino. Aber so wie es diese Verzweiflung gibt, gibt es auch das Glück. Ich plädiere nicht für Stoizismus, aber ich glaube, wir sollten auch nicht an der Tatsache selbst verzweifeln, dass es soviel Verzweiflung gibt – denn so ist die Welt gestrickt. Aber es gibt eben nicht nur Verzweiflung, es gibt wie gesagt auch Glück, wir müssen kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir manchmal auch ein bisschen glücklich sind.


(1) siehe: http://www.zeit.de/2015/18/meinungsleiter-thomas-de-maiziere-verantwortung-fluechtlinge

Zahlreiche Reportagen sind auf www.wolfgang-bauer.info und http://www.zeit.de/autoren/B/Wolfgang_Bauer/index nachzulesen.

Aktuelle Buchpublikation:
Wolfgang Bauer: Über das Meer.
Mit Syrern auf der Flucht nach Europa.
Eine Reportage. Mit Fotos von Stanislav Krupar.
edition suhrkamp 2014.
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