ausgabe #58. interview. evelyn schalk. astrid wlach
fesselnde spannung, befreiende literatur
Interview mit Dominique Manotti
(Ungekürzte Version; französische Version hier...)
Dominique Manottis hochspannende
Kriminalromane gehören zu den besten, die es derzeit zu lesen gibt.
Die Historikerin, politische Aktivistin, langjährige
Generalsekretärin der Pariser Sektion der linken Gewerkschaft CFDT
schreibt Gesellschaftspanoramen, die komplexe Strukturen aus
Korruption, Gier und Macht offenlegen. Der KPÖ-Bildungsverein hat
sie im Mai 2014 zur Präsentation ihres kürzlich auf Deutsch
erschienenen Bandes „Ausbruch“ nach Graz eingeladen. Im ausreißer
spricht die „Grande Dame“ des „roman noir“ über politische
Militanz, Methoden literarischer Kooperation, Grenzen und Potentiale
von Sprache, Literatur und Medien als vierte Gewalt, persönliche
Verzweiflung und Möglichkeiten des Protests.
Das Interview führten Evelyn Schalk und Astrid Wlach
Sie erklären, Sie haben erst aus
Desillusionierung und Verzweiflung zu schreiben begonnen, dann als
andere Form des politischen Engagements...
...ja, aber da muss man vorsichtig
sein, dabei handelt es sich nicht um politisches Engagement, sondern
um Romane.
...Sie meinen, es geht um Fiktion?
Ja – und das ist der Unterschied. Ich
habe nie gesagt, dass es sich dabei überhaupt um politisches
Engagement handelt. Es ist meine Weise, die Welt zu sehen, und die
hat sich nicht verändert – egal ob ich Politik mache oder Romane
schreibe. Aber es ist nicht dasselbe. Ich beschreibe, wie ich die
Welt sehe, ich erzähle was ich wahrnehme, aber es ist und bleibt ein
Buch, ein Roman, keine politische Handlung. Es kann den Lesern dazu
dienen, ihre Sicht auf die Dinge weiter zu entwickeln und daraus
wiederum eigene Handlungen werden zu lassen. Aber das machen sie, die
Leser, nicht ich.
Die Romane, die wirklich Einfluss hatten, wie Victor Hugo in Frankreich oder Dickens in Großbritannien, sind sehr rare Ausnahmen. Auch sie sind es nicht selbst, die die Dinge bewirkt haben, aber sie haben zu exakt dem richtigen Zeitpunkt eine Sichtweise dessen vermittelt, was gerade passiert und damit etwas ins Rollen gebracht. Also, man kann nicht nur einfach sagen, meine Romane sind eine Form des politischen Engagements, es ist viel komplexer, okay?
Sie halten also fest, dass es sich
dabei nicht um „engagierten Literatur“ handelt?
Nein. Der Begriff ist stark geprägt
vom Nachkriegskommunismus, der der Literatur ihr Gewicht gab. Also,
es ist nicht engagierte Literatur in diesem Sinne, aber ich, ich als
Autorin, bleibe ein engagierter Mensch. Meine Weltsicht hat sich
nicht geändert. Ich bin Marxistin und analysiere die Welt, die ich
sehe, durch das Prisma des Marxismus.
Sie haben einmal gemeint, sicher
nicht für eine große Masse zu schreiben. Nun sind Ihre Romane
äußerst erfolgreich, werden von Gallimard verlegt, übersetzt und
mit Preisen ausgezeichnet. Sie haben es also – trotz vermeintlichem
Desinteresse, trotz immer schnelllebigerer Zeit und Reduktion von
Reflexionsbereitschaft und -fähigkeit – geschafft, dass viele
Menschen ihre Bücher lesen und beginnen, komplexe politische Themen
und Zusammenhänge kritisch zu reflektieren. Sehen Sie zumindest
diesen Effekt als erfolgreich im politischen Sinn?
Das wäre gut, aber ich nehme den Leser
nicht bei der Hand, um ihm zu sagen, das ist gut und das ist böse.
Der Leser liest und versteht auf seine Weise. Ich bringe immer das
Beispiel von [James] Ellroy. Ellroy ist ganz unverblümt ein Mann der
Rechten – Protestant, praktizierend, ausgerechnet! Außerdem für
die Todesstrafe, rassistisch, homophob, in allen diesen Punkten ist
er ein erklärter Rechter. Aber er besitzt einen außergewöhnlich
scharfen Blick, und er verstellt sich nicht, das zieht er durch. In
seinen Beschreibungen lese ich – und das ist meine eigene Freiheit
– eine heftige Kritik der amerikanischen Gesellschaft! Für ihn ihn
hingegen ist es keineswegs Kritik, sondern höchstens eine
Verteidigung, der Helden, die Amerika ausmachen! Ich aber sage: Man
muss die Gesellschaft verändern. Aber es ist meine Freiheit, das in
seinem Roman zu lesen. Seine Romane basiert auf der Realität, er
macht sie sichtbar, aber seine politischen Optionen sind ganz und gar
nicht die meinigen. Meinetwegen kann es rechte Leute geben, die
umgekehrt meine Romane lesen und sagen: Ja, das sind Dreckskerle,
aber Dreckskerle die lebendig sind, die ich liebe. Ich möchte
erreichen, dass diese Dreckskerle lebendig werden und keine
abstrakten Ideen. Der Roman, wenn sie so wollen, der engagierte Roman
der fünfziger Jahre, war diesbezüglich eine Katastrophe, die Bösen
waren immer Karikaturen, es gab nie lebendige Personen. Man hat seine
Figuren verabscheut, weil sie der Vorstellung des Bösen schlechthin
entsprach, okay. Ich versuche, das nicht so zu machen. Ich versuche,
Ganoven darzustellen, korrupte Politiker, aber Leute, die lebendig
sind. Es sind ja keine Predigten, also will ich auch keine
Karikaturen in meinen Romanen, sondern lebendige Figuren schaffen,
die Mistkerle sind, aber immer ambivalent, zu jedem Zeitpunkt.
Als Beispiel: „Le Corps noir“ [„Das schwarze Corps“] ist ein Roman, der am Ende der Besatzungszeit in Frankreich spielt. Das Personal besteht aus französischen Unternehmensbossen, die enorm kollaborieren. Es gab tatsächlich nur zwei Ausnahmen, zwei Männer, die das verweigert haben, aber alle anderen haben es gemacht. Meine Hauptfigur ist noch viel weiter gegangen, und das basiert auf reale Fakten, er hat dazu gehört, er stand auf deren Gehaltsliste, denn er arbeitete für den wirtschaftlichen Nachrichtendienst der SS. Ich erzähle seine Geschichte jedoch in meinem Roman nicht, um aus dieser Person eine totale Karikatur zu machen, einen Bösewicht, auf den jeder spuckt. Also habe ihm einen Sohn gegeben, der sich der Résistance anschließt, und ich habe ihm eine Liebschaft aus der Verwandtschaft gegeben [lacht], die ganz und gar nicht inkompatibel ist zu dem, was er tatsächlich gemacht hat. Das macht es noch viel schlimmer, aber das interessiert mich nicht, ich möchte eine lebendige Persönlichkeit schaffen, ambivalent, die man verstehen kann. Nicht alle Dreckskerle sind schlechte Väter. Er ist ein guter Vater und er wird in dieser Geschichte leiden, er hängt auch sehr an seiner Frau usw. Im Leben ist es genauso, es ist kompliziert. Ich kenne, gerade wenn ich Geschichten über Wirtschaftsbosse erzähle, enorm viele Leute in diesem Bereich, Sie wissen schon, Leute die hin und wieder sehr intelligent und kultiviert sind, und eigentlich... sowas braucht keine Karikaturen...
Was halten Sie von experimenteller
Literatur, dem Nouveau Roman, als Gegenpol zur klassischen Literatur,
im Sinne einer Neudefinition von Sprache, die ja auch immer Ausdruck
von Herrschaft ist?
Ich bin gegen den Nouveau Roman. Ich
denke, es bedeutet mehr oder weniger das Ende, es wird keine
Geschichte mehr erzählt – und daran glaube ich nicht. Im
Gegenteil, ich bin zutiefst überzeugt, dass man Geschichten nicht
mehr in der selben Form erzählen kann wie im 19. Jahrhundert. Das
erscheint mir absolut sicher. Es ist seither enorm viel passiert. Es
ist zum Beispiel das Kino gekommen, und in der Folge mit den
Videospielen und alldem sind wir in eine Ära eingetreten, in der der
Rhythmus der Erzählung absolut nicht mehr der selbe sein kann. Ein
Beispiel dafür ist Balzac, den ich sehr intensiv gelesen habe und
sehr liebe. Balzac war ein Mann der Rechten, Royalist – und er
erzählte die Welt auf außergewöhnliche Weise. Sie sehen also, es
ist nicht so einfach, das ist es, was ich sagen will... Klar, ich
wäre sehr froh, wenn ich so gut erzählen könnte wie Balzac
[lacht]. Balzac hatte eine außergewöhnliche Technik, er hat sehr
lange Landschaftsbeschreibungen gemacht. Es ging darin jedoch nicht
wirklich um die Landschaften, die er beschrieb, sondern um die
Funktion, den Leser in die Gedankenwelt jener Leute zu versetzten,
die gleich danach auftauchen. Tatsächlich erzählt er so die
Menschen, die in dieser Landschaft leben. Das ist sehr stark. Aber
wenn ich das heute jungen Leuten um die zwanzig, mit denen ich zu tun
habe, zu lesen gäbe, würden sie, sobald sie bei der Beschreibung
ankämen, diese sofort überblättern, so etwas ist nicht mehr
möglich. Denn das Kino hat den Rhythmus der Geschichte verändert.
Ich habe zwei Enkelkinder und normalerweise schauen wir Tex Avery
oder Tom und Jerry zusammen – da gibt es alle fünf Sekunden einen
Gag, ein Wahnsinn, aber das prägt sie natürlich. Wenn ich ihnen
Stummfilme zeige, die mich als Kind zum lachen brachten [lacht],...
...und vielleicht auch noch in
schwarz-weiß...
...genau. Ihnen Schwarz-weiß-Filme
zeigen..! [lacht] Gut, man muss also versuchen, diese Veränderungen
aufzugreifen. Und dann hat das Kino nicht nur den Rhythmus verändert,
die Schnelligkeit der Erzählung – und daher die Idee, im Präsens
zu schreiben: Im Kino ist man in der Gegenwart, Kino bedeutet
Unmittelbarkeit. Wenn ich in der Vergangenheit, der traditionellen
Erzählzeit, schreibe, heißt das erstens: der Autor kennt das Ende.
Er erzählt eine Geschichte, die beendet ist. „Ich war“ - das
vermittelt, dass ich nicht mehr an jenem Ort bin und das ich weiß,
was hinterher passiert ist. Also: Der Autor befindet sich außerhalb,
er kennt das Ende. Dadurch befindet er sich nicht in der selben
Situation wie der Leser. Wie soll ich sagen? Der Leser ist
automatisch viel weniger miteinbezogen. Die Vorstellungswelt des
Kinos aber ist in der Gegenwart. Die Zuschauer sehen, was gerade in
dem Moment, passiert. Ich denke, dass bald alle Romane im Präsens
geschrieben werden. Das beginnt gerade jetzt [lacht]. Und der dritte
Grund ist, dass es eine Zeit ist, die mit der Handlung
korrespondiert. Bei Balzac steht die Landschaftsbeschreibung in der
Vergangenheit und die Erzählung ebenso. Und dann... ich gebe Ihnen
ein Beispiel: „Maxime kam mit dem Auto am place du Marché an.“
Wir sind also in der Vergangenheit. „In dem Moment stieg Maxime aus
dem Auto.“ Immer noch Vergangenheit. Hier können Sie eine
Beschreibung beginnen. man hat keinen Druck, keine Spannung. Aber:
„Maxime kommt am place de Marché an, steigt aus dem Auto und...“
Da erwartet man, dass etwas passiert. Die Gegenwart ist die Zeit der
Handlung, also muss etwas passieren.
Man kann diese Zeit nicht für eine Beschreibung verwenden. Man kann eine Landschaft heraufbeschwören, Wahrnehmungen in Erinnerung rufen. Aber in dem Moment, in dem es um Bruchstücke von Landschaften, Erinnerungsfetzen von Eindrücken geht, muss man kurze Formulierung finden, die ein Bild erzeugen einen zum Vibrieren bringen. Man hat keine Zeit zu warten. Mit dem Perfekt hat man Zeit. Man hat Zeit, weil es nichts Dringendes gibt, denn was auch immer passiert, die Geschichte ist zu Ende. Also ja, ich glaube, dass man in zwanzig Jahren nicht mehr so schreiben wird, wie das vor fünfzig Jahren der Fall war.
Sie haben wiederholt auf den
sinkende Qualität der französischen Presse verwiesen, in Österreich
und Deutschland ist das nicht anders. Sie meinten, Reflexion
verschiebe sich eventuell eher auf die Ebene des Romans...
Ja, die Situation der Presse ist
wirklich schlimm – und ich weiß nicht, ob sich die Journalisten
dessen bewusst sind. Es gibt einen Haufen Gründe dafür, aber das
ist der Status Quo. Wenn man von der Presse als vierte Macht im Staat
spricht – das ist vorbei. Ergo hat man eine Demokratie, die extrem
aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das beste Beispiel ist der zweite
Irak-Krieg der USA. Die USA stehen im Ruf, eine sehr freie Presse von
hoher Qualität zu haben. Die Behauptung von Bush über die
Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein war grotesk, einfach
idiotisch. Aber die gesamte amerikanische Presse ist – ausnahmslos
– darauf hereingefallen. Das ist ein Wendepunkt in unserer
Geschichte, unsere Demokratie funktioniert nicht mehr, weil es eine
Kraft weniger gibt. Wie gesagt, das hat eine Menge Gründe, nicht nur
die schlechte journalistische Qualität. Aber es ist z.B. Fakt, dass
man heute in Frankreich über die Ukraine keine Informationen
bekommt. Es ist unglaublich, die Journalisten begeben sich nicht mehr
vor Ort, um zu recherchieren. Sie informieren uns nicht, sondern
geben einfach nur Kommentare ab und die werden dann zur dominanten
Sichtweise. Die Amerikaner sind so und die Franzosen so, beide sind
immer ganz toll und die Russen sind immer die Bösen! Es ist wirklich
wie bei James Bond! Oder bei Indiana Jones: Ich habe eben die Folge
mit dem Kristallschädel [„I.J. und das Königreich des
Kristallschädels“] mit meinen Enkelkindern gesehen, dort gibt es
auch so einen grauenhaften russischen Protagonisten... Man hat unser
Denken komplett durchtränkt mit diesem Bild, wir haben es in all
diesen Filmen gesehen, James Bond, Indiana Jones,etc. Danach wird
dann geurteilt, die Presse hat sich ideologisch auf die Verteidigung
des Abendlandes eingeschossen, statt Informationen zu liefern. Und
das reproduziert sich jedes Mal, wenn es eine Krise gibt, seit
dreißig Jahren. Also obliegt die Arbeit, etwas offenzulegen, dem
Roman.
Der Algerienkrieg ist ein weiteres Beispiel. Jeder weiß bzw. könnte wissen, dass es Folter und Massaker gegeben hat. Jeder. Aber die Informationen zirkulieren einfach nicht. Die Zeitungen haben nicht darüber geschrieben, haben es nicht aufgedeckt. Es gab ein furchtbares Massaker am 17 Oktober 1961 während einer friedlichen Kundgebung von Algeriern in Paris. Eine friedliche Kundgebung mit mindestens 300 Toten in einer europäischen Hauptstadt! Die Leichen wurden in die Seine geworfen. Aber als erstes war darüber nicht in der Zeitung, sondern in einem Roman zu lesen. Auch die Historiker haben nichts gesagt. 1975 hatte ich eine heftige Diskussion mit einem Uni-Professor, der behauptete, es habe nur drei oder vier Tote gegeben. Klar stand in den Polizeiarchiven nicht: Wir haben getötet und ein paar Leichen in die Seine gekippt. Wenn sie bei den offiziellen Archiven aufhören zu suchen, haben sie zehn bedauernswerte Unfälle, das war's. Also der erste, der darüber berichtete, war der Roman „Meurtre pour mémoire“[„Bei Erinnerung Mord“]. Es ist diesem Roman zu verdanken, dass man angefangen hat, tiefer zu graben, Archivare haben Materialien weitergegeben und wurden daraufhin entlassen. Trotzdem sich ein Ereignis wie dieses mitten in der Hauptstadt zugetragen hat, ist darüber nicht viel zu finden. Der Roman ist also, wenn er mit dem Anliegen entsteht, zu recherchieren, Dingen auf den Grund zu gehen, zu verstehen und Zeugnis abzulegen unentbehrlich für die Kenntnis der Gesellschaft. Der Roman braucht eine bestimmte Zeit, um zu reifen, im Journalismus ist dafür keine Zeit. Ja, ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Romane heute eine sehr, sehr wichtige Funktion haben.
Und wenn Sie die amerikanische Gesellschaft verstehen wollen, müssen Sie amerikanische Romane lesen. Durch die Romane kommen sie der amerikanischen Gesellschaft sehr nahe, nicht durch die Presse.
In Ihrem aktuellen Roman „Evasion“
[„Ausbruch“] zeigen Sie am, fast möchte man sagen
prädestinierten, Thema der Brigate Rosse die Verschränkung bzw.
Überlagerung von politischem und literarischem Betrieb, die Macht
der Geschichtenschreibung gegen die der Geschichtsschreibung, das
Verändern bzw. Manipulieren dessen, was ins kollektive Gedächtnis
eingeht. Zum ersten Mal spielt hier eine Figur, Filippo, eine
tragende Rolle, die die Folgen ihrer Handlungen nur sehr begrenzt
abschätzen kann. Das ist ungewöhnlich für Ihre Bücher, in denen
die Protagonisten das System, in dem sie agieren, meist nur allzu gut
durchschauen (oder zumindest ihren Wirkungsbereich). Woher dieser
Ansatz?
Tja, er ist sehr jung, er ist ein
bisschen das Kind aus den Banlieues. Natürlich nicht faktisch
natürlich, er ist Italiener, hat auch einen anderen kulturellen
Hintergrund. Aber auch er hat keine Bildung, nichts, niemand. Er ist
also ein bisschen ein Kind der Banlieues. Er ist ein bisschen die
Jungs, die man in den Banlieues hat...
...also beginnt er sich selbst seine
Welt zu erschaffen, schreibend, ausgerechnet orientiert an einer
Person, die Teil eines Kollektivs ist, wie Carlo...
Aber für mich ist das literarisch
gesehen das Spiel, die Erinnerung, die er verändert, in die er
eingreift. Er kennt seine Welt nicht, er kennt nur das, wovon ihm
Carlo erzählt. Dieses Spiel mit dem Gegensatz, ich weiß nicht, ob
mir das so gut gelungen ist. Aber da ist Carlo, der die Sprache
beherrscht, ihm enthusiastisch große Geschichten erzählt und dann
diese Kälte, er findet sich in den Bergen wieder und Carlo lässt
ihn fallen. All die großen Reden über Kollektiv – und jetzt diese
Scheiße!
Der Diskurs von Carlo hat eine Realität überdeckt, drückt eine Realität aus. Die Zeit ist eine andere, die Begebenheiten haben sich geändert, doch der Diskurs von Carlo ist nur in diesem Kontext des heftigen Kampfes real und dieser Kampf ist vorbei. Er findet sich also ganz allein in den Bergen wieder und Carlo sagt ihm: ‚Verpiss dich! Ich habe meine Möglichkeiten und du verpisst dich.‘ Das ist der grundlegende Verrat für Filippo. Er erwartete das nicht. Was er sich also in den Kopf setzt, ist auch die Macht des Diskurses. Die Macht des Diskurses muss nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen. [lacht] Und so kreiert er sich nach und nach selbst, indem er diese Geschichte erzählt. Sorry, die Geschichte geht nicht gut aus, aber so ist das nun mal bei einem roman noir!
Ich würde sagen, das ist durchaus realistisch. Es gab eine Kritik – und das ist typisch Frankreich, die meinte, es sei nicht möglich, dass jemand ohne Kultur, ohne Bildung, schreibt. Aber selbstverständlich ist das möglich! Eine gewisse Anzahl von großen Büchern wurde so geschrieben; ich denke da im Besonderen an einen großen roman noir von Bunker, ein Amerikaner, der bis zum Alter von 40 Jahren ein schreckliches und kriminelles Leben verbrachte. Er hat Leute umgebracht, er war mit elf in eine Erziehungsanstalt für Kinder gebracht worden, in Folge lebte er ständig zwischen Gefängnis und Kriminalität. Als er 40 war, schenkte ihm eine Besucherin eine Schreibmaschine. Er hat zu schreiben begonnen – einen unglaublichen Roman! Der Stil ist weniger interessant als jener von Ellroy, gut, aber er hat aus dem Bauch heraus geschrieben, er hat erzählt! Und das ist der große Unterschied zwischen den Amerikanern und den Franzosen, er erzählt von seinen Taten. Er hat erzählt, wie er kriminell wurde, und er hat drei hervorragende Romane geschrieben. Man hat ihn entlassen! Man kann doch nicht Schriftsteller im Gefängnis behalten! [lacht] Er wurde einer der großen Drehbuchautoren von Hollywood!
„L`honorable societé“ [„Die
ehrenwerte Gesellschaft“] haben Sie gemeinsam mit dem Autor DOA
verfasst – wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und wie hat der
gemeinsame Schreibprozess funktioniert?
Das ist zufällig
entstanden. Wir haben uns auf einer Buchmesse getroffen, wo wir in
der selben Diskussionsrunde saßen. Ich habe zur Vorbereitung seine
Bücher gelesen, „Citoyens clandestins“ – das mag ich sehr.
Danach haben wir lange diskutiert und festgestellt, dass wir einen,
sehr ähnlichen Literaturgeschmack haben. Seine Geschichten sind
jedoch ganz anders als meine, er kommt aus einem ganz anderen Umfeld
und er ist viel jünger als ich, so alt wie mein Sohn. Wir haben über
amerikanische TV-Serien gesprochen (unter anderem über „State of
Play“, die uns sehr gefallen hat) und uns über die französischen
geärgert. Warum aber jammern, statt etwas zu tun? So ist die Idee zu
einer Geschichte entstanden, zehn Seiten, die wir dann einem
Fernsehsender vorgelegt haben. Sie wurde sofort akzeptiert. Wir haben
also eine Struktur für acht Folgen ausgearbeitet, 150 Seiten. Doch
dann hieß es plötzlich: Nein. All die Arbeit umsonst, das wollten
wir nicht. Also haben wir beschlossen, uns nicht unterkriegen zu
lassen und einen Roman daraus zu machen. Aus acht Folgen wurden acht
Kapitel. Doch gemeinsam an einem TV-Skript zu arbeiten, ist
einfacher, als an einem Roman. Wie kann man gemeinsam schreiben? Wir
haben eine Methode gefunden: Beim Schreiben haben wir uns die Figuren
aufgeteilt, dann ausgetauscht, korrigiert, neu geschrieben,
zusammengelegt, wieder gegengelesen usw. Das ist viel mehr Arbeit,
als wenn man allein schreibt, aber es hat sehr, sehr viel Spass
gemacht! Am Anfang gab es eine einzige Forderung, und die kam von
mir: Es sollte im Präsens geschrieben werden. Er, der immer im
Perfekt schrieb, hat eingewilligt, ich habe ihm gesagt, das ist das
Privileg des Alters [lacht]. Jetzt schreibt er immer im Präsens! Als
wir fertig waren, haben wir uns darauf geeinigt, dass niemand
preisgibt, wer welche Personen geschrieben hat. Und als wir den Text
wieder gelesen haben, hatten wir beide exakt dieselbe Reaktion, das
Gefühl, als hätte das Buch eine einzige Person geschrieben. Die
Figuren haben sich sozusagen doppelt entwickelt. Wir haben sicher
beide sehr viel gelernt dabei. Es ist eben wie im Leben, als Paar ist
es ziemlich kompliziert... Es gibt einige Punkte bei so einer
Kooperation, die von Anfang an unbedingt zu beachten sind. Erstens
muss man sich gegenseitig zutiefst schätzen. Das war bei uns der
Fall. Man darf auch nicht selbstverliebt sein. Ich habe gleich ihm
von seiner ersten Szene die Hälfte gestrichen, ich dachte: Wenn das
möglich ist, gut. Und er hat nichts gesagt. Genau darum geht es, es
gibt eine Menge Autoren, die es nicht akzeptieren, wenn man in ihre
Texte eingreift. Dann ist es nicht der Mühe wert.
Hat die Entscheidung, unter Pseudonym zu schreiben, politische
Gründe? Von der privaten Marie-Noëlle Thibault weiß man öffentlich
so gut wie nichts...
Als ich zu schreiben begann, habe ich
noch unterrichtet, an der Universität von St. Denis, das liegt im 93
Département, in einem schwierigen Banlieue. Ich hatte eine Beziehung
zu meinen Studenten aufgebaut, auf eine bestimmte Weise, aber ich war
nie die kumpelhafte Professorin... Ich wollte nicht, dass die Romane
in meinen Kursen bestimmend werden. Das waren zwei verschiedene
Welten. Ich habe noch über zehn Jahre unterrichtet und wollte beides
trennen, auch aus politischen Gründen, aber heute macht es mir
nichts aus, meine beiden Namen zu mischen.
Gab es nie politische Reaktionen auf
ihre Romane?
Nein, nie. Es gibt einen Ökonom, der
vor einigen Jahren ein bemerkenswertes Buch geschrieben hat, über
die Ungleichheiten, die Mechanismen der Kapitalanhäufung usw. Eine
gute Arbeit, historisch, statistisch, soziologisch, ökonomisch
gesehen. In Frankreich hat keiner darüber gesprochen, kein Mensch
hat es gelesen. Alle haben gesagt: marxistische Provinzliteratur.
Dann ist er in die Vereinigten Staaten gegangen und hat kolossalen
Erfolg gehabt. In zehn Wochen hat er 200.000 Exemplare verkauft, Paul
Krugman hat ihn schon als möglichen Wirtschaftsnobelpreisträger
erwähnt. Jetzt spricht man in Frankreich von ihm...
Sie wählen für Ihre Romane immer
historische Kontexte, doch die jetzige politische und wirtschaftliche
Situation ist eine Folge dieser Entwicklungen, gerade auf die
Ereignisse der 1980er Jahre bezogen – wollten Sie nie zu den
aktuellen Umbrüchen schreiben? Sie bloggen ja auch zu Tagesthemen...
Ich habe eine tiefe Zuneigung zu kollektiven Debatten. Ich als
Einzelperson habe nicht die Legitimation zu sagen, was getan werden
muss, daher keine echten politischen Kommentare. Ich habe zum
Beispiel die Ereignisse in der Ukraine kommentiert, vielleicht habe
ich es nicht hörbar genug getan, aber ich habe es versucht, weil ich
das Gefühl hatte, mit all dem über die Ukraine auch etwas über die
Rolle der Literatur zu sagen.1 Wenn
überhaupt, würde ich versuchen, Kommentare zu verfassen, die an
meine Rolle als Autorin geknüpft sind. In einem oder in zehn Jahren,
wird es vielleicht den ersten Roman über den Maidan geben. So war es
auch beim Balkankrieg, heute gibt es dazu sehr gute Romane. Ich habe
einen sehr starken Sinn für Legitimation. Um legitim zu sein, muss
man etwas repräsentieren, sonst ist es nur die persönliche Meinung.
Man muss ein Kollektiv repräsentieren, kollektive Kämpfe, ein
Individuum hat diese Legitimation nicht von selbst. Ich möchte keine
Kommentatorin der Politik sein, ich möchte es schaffen, die
Verbindungen zwischen Roman und Politik sichtbar zu machen, denn
genau das ist meine Funktion als Romanautorin, die mich legitimiert
etwas über Politik zu sagen.
...das bezieht sich vor allem auf
aktuelle politische Ereignisse, aber mit ihren Romanen verweisen sie
ja unmittelbar auf die Basis jetziger Entwicklungen, sind Sie
diesbezüglich...
Ich bin sehr pessimistisch. Meine
Vorstellungen sind zerbrochen. Die Leute, die ich treffe, die realen
meine ich, verwundern mich. Also der Ort der Imagination ist sehr eng
geworden, da sind nur lauter Abenteuer, gewalttätig... Ich werde es
trotzdem weiter versuchen, ja, ... also die Frage war was?
Mit ihren
aktuellen Recherchen scheinen Sie gerade jene Zusammenhänge
aufzudröseln, die unmittelbar zu den jetzigen Umbrüchen und Krisen
geführt haben – es geht um Ölpreis, Entkolonialisierung und die
damit verbundene Situation im Nahen Osten, Syrien, Libyen etc....
Ja, es ist faszinierend, weil das meine
Epoche war, die Zeit, in der ich wirklich militant war, es ist die
Epoche, in der es offene, schwierige Kämpfe gegeben hat. 1973, das
war das Jahr der Affaire Lip in Frankreich, das waren Arbeiterkämpfe,
die Jahre gedauert haben und die großartige Gegenmodelle versucht
haben.2
Es gab Mobilisation, es gab eine Welt, in der man daran geglaubt hat,
dass sich etwas verändern könnte. Aber dann haben sich die
entscheidenden Bewegungen woanders hin verlagert und wurden nicht
mehr gesehen. Die Geschichte spielt woanders und wir, wir waren hier,
mit unseren kleinen... [lacht]. Momentan, mit meinen Romanen, begebe
ich mich auf diese Spur, aber es ist sehr schwierig.
Hat es im deutschsprachigen Raum
andere Reaktionen auf ihre Bücher gegeben als in Frankreich?
Ja, etwa auf „Bien connu des services
de police“ [„Einschlägig bekannt“], das von einem Kommissariat
in einem Banlieue im 93. Département handelt. In Krimis wird sonst
immer die Geschichte von den sogenannten „großen Bullen“
erzählt. Die Polizisten an der Basis, die auf der Straße, die
Uniformierten, sieht man kaum – über sie habe ich geschrieben. Es
ist ein Roman, in dem alle Anekdoten wahr sind, ich habe auf meine
eigene diesbezügliche Geschichtensammlung zurückgegriffen. Von der
Landespolizeidirektion in Bonn wurde ich zu einer Diskussion
eingeladen – aber nicht von der französischen Polizei. Die Debatte
dort war durch und durch heftig, aber gut. In Frankreich wird diese
Art der Kritik nicht akzeptiert. Klar, das hält mich nicht davon ab
und man sperrt mich nicht ein deswegen, aber... Ich weiß nicht, ob
man hier darüber spricht, aber vor ca. 14 Tagen wurde ein Fall
bekannt, der wirklich erschütternd ist. In Paris liegt gegenüber
des Quartier Latin der „36 quai des Orfèvres“. Das ist der Sitz
von quasi allen wichtigen Polizeieinheiten, die großen Bullen sind
alle dort, eine Art mythischer Ort, die Spitze der Spitze. Also, vor
14 Tagen haben sich drei Polizisten aus dem „36 quai des Orfèvres“,
weit oben in der Hierarchie, nicht ganz die Superchefs, aber doch, in
einem Bistro gleich gegenüber volllaufen lassen, zusammen mit einer
kanadischen Touristin. Sie haben sie ins „36“ mitgenommen, haben
weitergetrunken und sie dann vergewaltigt. Sie hat Anzeige erstattet,
als sie wieder in Kanada war. Das Ganze ist ein furchtbares Drama,
aber vielleicht könnte es einen kritischen Raum eröffnen, gerade
weil es im „36“ passiert ist. Eine Polizei, die doch über
jeden Verdacht erhaben ist... Sie waren total blau. Und all das an
einem Ort voller Kameras, Zugangscodes, dort ist alles
personalisiert, man braucht Fingerprints usw.! Sie müssen bis zur
Besinnungslosigkeit betrunken gewesen sein. Etwa eine Woche vor
diesem Ereignis hatte ich eine Debatte mit einem Richter, gerade über
das erwähnte Buch. Ich habe ihm gesagt, dass die Polizeikultur in
Frankreich die der falschen Zeugenaussagen, des Corpsgeistes ist. Der
Richter ging an die Decke [lacht]! Ich habe weiter gemacht und mit
ihm über Alkoholismus in den Reihen der Polizei diskutiert, er
sagte, das sei längst vorbei. Auch die Vergewaltiger haben Beweise
verschwinden lassen, den Tatort manipuliert, falsch ausgesagt.
Natürlich habe ich den Richter danach angerufen...!
1 Kommentar von Dominique Manotti zur Ukraine auf ihrem Blog (in französischer Sprache): http://www.dominiquemanotti.com/2014/03/lukraine-question-de-principe.html
2 Im Zuge der „Affäre Lip“ besetzten die Beschäftigten der Uhrenfabrik Lip in Besançon im Kampf um ihre Arbeitsplätze 1973 die Fabrik und nahmen die Produktion selbst in die Hand. Sie produzierten selbstorganisiert, realisierten monatelang den Verkauf und zahlten sich selber aus. Die Aktion hatte ein großes Echo in Frankreich und weltweit, der Begriff „Affaire LIP“ bezeichnet weit mehr als einen Konflikt in einem Betrieb. Lip war ein Katalysator, wurde zu einer Massenbewegung und steht für neue Formen von Klassenkämpfen. „Wir machen es wie bei Lip!” wurde zu einer Orientierung in den sozialen Kämpfen. Vgl. u.a.: http://geschichtevonuntenostwest.wordpress.com/e/ oder genauer: retro.seals.ch/cntmng?pid=grs-002:1973:65::511